Meine Zeit steht

„Der Schäfer geht ins Tor hinein. Holt sich dort ein Lämmlein klein. Nimmt es mit hinaus. Und schlieĂźt das Haus.“ Immer und immer wieder habe ich in den letzten Tagen dieses kleine Sätzchen gehört. Die, die es unermĂĽdlich vor sich hin murmelt, sitzt auf dem Sofa, hochkonzentriert, die Stricknadeln fest im Griff und die Bäckchen schon ganz rot, weil Neues lernen hin und wieder furchtbar anstrengend sein kann. Anstrengend ja, denn wie schnell hĂĽpft so eine rosa Masche einfach von der Nadel, gerade so, als wäre sie wirklich ein bockiges kleines Lämmlein, oder man hält den ganzen Zinnober versehentlich verkehrtherum oder den Faden zu stramm, dann bewegt sich rein gar nichts mehr. Neues lernen ist furchtbar anstrengend, aber eben auch furchtbar schön und hinterher, wenn drei oder fĂĽnf Reihen geschafft sind, kannst du direkt und voller Stolz betrachten, was deine Hände da fĂĽr ein Wunderwerk vollbracht haben.

Heute ist November und heute ist bei uns hier der erste Schultag nach fast zweieinhalb Wochen Pause. Ich habe sehr gemeckert über diese unsinnig langen Ferien, die uns natürlich an andere Stelle abgezwackt wurden. Und ich habe dieses unsinnig lange Zeit sehr genossen. Weil ich nämlich auf dem Sofa sitzen konnte und meinem kleinen Mädchen das Stricken beibringen durfte. Etwas beibringen kostet dich Zeit. Wenn etwas kostet, egal ob Geld oder Zeit, hat man es nicht mehr für etwas anderes zur Verfügung. Ich hätte die schul- und arbeitsfreie Zeit vielleicht besser in eine Grundreinigung des Hauses gesteckt, oder in das Ausmisten aller zur Verfügung stehenden Räume, in die Entwicklung eines amtlich anerkannten Ablagesystems oder in verzwickte Familienzusammenführungen aller getrennt lebender Sockenpaare in unserem Teil des Universums. Habe ich aber nicht. Ich habe die kleine Hand geführt, Maschen aufgefangen, den Zinnober immer wieder richtig herum gedreht. Und dabei die Geschichten vom Franz gehört, so, wie sie nur Christine Nöstlinger höchstselbst vorzulesen vermochte. Weil der Mensch hin und wieder eine Stärkung braucht fuhr ich zwischenzeitlich mit dem kleinen Mädchen zu einem entlegenen Hof, der die allerschönsten Pflanzen und die weltbeste Himbeertorte beherbergt, nur wir beide, ganz allein.

In der Zwischenzeit investierte der Gatte seine Zeit und reiste mit seinem ältesten Sohn nach Paris, denn das hatten wir ihm zur Firmung geschenkt. Sie liefen sich die Füße platt, schauten alle ehrwürdigen Denkmäler und Kirchen an, bestiegen den Eifelturm und hatten drei unvergessliche Tage. Einen Teil unserer Zeit gaben wir für eine große Wanderung aus, immer entlang der deutsch-französischen Grenze, auf der unsichtbaren Linie zwischen Pfälzer Wald und Vogesen. Damit ging der Herzenswunsch unseres Mittleren in Erfüllung, und weil ich von da komme, weil da ein großes Stück meines Herzens wohnt und weil der Wald über ganz eigene Kraft verfügt um in Seelen und überlasteten Köpfen Ordnung zu schaffen, gaben wir diese Zeit von Herzen gerne aus. Ich prasste mit Zeit beim Spiele spielen, beim Kekse backen, beim Bänkchen sitzen und bereute ein wenig die teure Zeit in einem Spaßbad (andererseits hatten Teile von uns tatsächlich Spaß, also was solls)

Weil manche Menschen auf bemerkenswerte Weise ihre Zeit spenden, konnten unsere Großen eine wirklich gute Woche bei adonia verbringen- eine Investition, deren Gewinn langfristig ausgeschüttet wird und von dem die Spender im Zweifel gar nichts mitbekommen. Wir haben nach einem tollen Konzert erfüllte und glückliche junge Menschen zurück nach Hause geholt und ich bin den Zeitspendern und Spenderinnen sehr dankbar, ach, wie wenig selbstverständlich ist ein solcher Einsatz?!

In den letzten zweieinhalb Wochen war ich nicht geizig, sondern verschwenderisch und spendabel. Ich schenkte Zeit, ich ließ Zeit, ich vertrödelte Zeit, immer in dem Wissen, dass du nicht alles haben kannst. Die Zeit, die du bezahlst, wird dir an anderer Stelle fehlen, du kannst sie nicht doppelt und dreifach ausgeben, im Unterschied zum Geld kann dir noch nicht mal jemand einen Kredit geben. Zeit ist das Kostbarste, was wir haben und es empfiehlt sich sehr, genau zu schauen, was wir mit unserem Guthaben anstellen.

An einem dieser sonnigen Herbsttage stand ich mit einer der lieben Freundinnen, die ich schon seit hundert Jahren kenne, auf dem Neustädter Marktplatz (Neustadt an der Weinstraße, nicht Neustadt von Benjamin Blümchen) und starrte zum Kirchturm hoch, den ich vor vielen Jahren zuletzt gesehen hatte. Oben, ganz oben, führt ein Schriftband entlang: Meine Zeit steht in deinen Händen. Ich dachte kurz an die junge Studentin, die ich war, als ich den Turm damals sah und die sich ein wenig fürchtete vor der Zeit, die vor ihr lag, wie ein endlos weites und unbekanntes Land. Dann dachte ich, welch ein Geschenk doch Lebenszeit ist, Zeit in und mit und für dieses verrückte, schöne, schmerzhafte und wunderbare Leben. Wie wertvoll dieses Geschenk ist, denn du weißt nicht, wieviel davon für dich vorgesehen ist, und wie sorgfältig wir investieren sollten. Ich plädiere mit ganzem Herzen für großzügige und verschwenderische Investitionen in Liebe und Fürsorge, in gemeinsame Stunden, in Sofazeit, Himbeertorte im Herbstgarten und Wandertage, in geschenkte Zeit mit deinen Lieben zu allen Anlässen anstelle von Kram und Zeug. Ich will mir Zeit nehmen für gemeinsame Mahlzeiten und ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, will einen Kinderkopf streicheln, so lange ich noch darf und immer wieder neu entdecken, was letztlich wirklich zählt, mich erfüllt und froh macht. Ich will mir Zeit nehmen für mein eigenes Herz und das, was es mir erzählen möchte, will innehalte dürfen und atmen und staunen und Gedanken sortieren. Und wenn die Fenster dann nicht glänzen, wenn die Socken weiterhin ihr Trennungsjahr zelebrieren und man auf dem Fußboden besser keine OP am offenen Herzen durchführen sollte, dann ist es eben so, denn ich kann ja nicht alles haben.

Deine Zeit, was machst du mit ihr? In was und in wen investierst du, mit wem fĂĽllst du sie und wofĂĽr gibst du gerne mit vollen Händen? Ich glaube, dass wir uns diese Fragen stellen sollten, von Zeit zu Zeit…

Heute ist November und heute ist erster Schultag. Auf dem Schreibtisch stapelt sich Arbeit und im Keller stapeln sich Socken. Beiden werde ich mich jetzt mal widmen, es scheint an der Zeit zu sein. Ich werde ein neues Buch schreiben, darüber freue mich sehr. Zeit, die ich wahnsinnig gerne investiere, auch, wenn ich ein wenig Bammel habe. Neues lernen kann furchtbar anstrengend sein, aber eben auch furchtbar schön, wenn man erstmal drei oder fünf Zeilen geschafft hat.

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2 Kommentare zu „Meine Zeit steht“

  1. DANKE liebe Sandra fĂĽr diese wohltuenden Zeilen. Zeit fĂĽr die eine Sache bedeutet eben auch, dass diese Zeit fĂĽr Andres nicht zur VerfĂĽgung steht. Danke fĂĽr diese Erinnerung. Und dafĂĽr, dass Zeit fĂĽr uns und unsere Liebsten die wertvollste Investition ist. Putzen, Haushalt etc. darf warten- bei mir sind es die Fenster ;-). Ganz liebe GrĂĽĂźe und ich freue mich sehr auf dein neues Buch! Rahel

  2. Vielen lieben Dank Sandra fĂĽr die wahren Worte. Hier haben wir „nur“ eine Woche Ferien, die ich auch kompeltt urlaubend daheim verbringen darf. Die Pause haben wir uns sehr verdient. Unsere Mittlere hat mit ihrem Chor auch dieses Jahr wieder ein Musical von Adonia aufgefĂĽhrt. Bis vor den Ferien waren wir sehr mit Auf, Abbau, LKW laden helfen, Leckereien backen& zu denProben und 3 Konzerten an verschiedenen Orten begleiten beschäftigt. Es ist immer wieder schön wie die Kids Gemeinschaft erleben dĂĽrfen und wie das ChorTeam nach der Coronazeit wieder zusammenwächst und die Kids auf der BĂĽhne jedes Mal ein StĂĽckchen mehr ĂĽber sich hinauswachsen.

    Wir genießen die restliche Ferienzeit in vollen Zügen. Tanken Kraft und sammeln Vorräte für den Winter a la Frederick.

    Die Socken und die Bügelwäsche dürfen bis kommende Woche warten. Die kommenden drei Tage werde ich genießen ohne Ende. Spielen, backen, vorlesen, auf Wunsch der Kids Zimmer tauschen und mir mittags eine Pause gönnen.

    Ein neues Buchprojekt wie wunderbar 🙂 Ich freue mich sehr!

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