Unlösbar

Am Freitag startete ich ein etwas wahnsinniges Unterfangen. Es war wahnsinnig, aber auch sehr gut durchdacht und lange geplant. Eine Gleichung, bei der alle Unbekannten berücksichtigt worden waren. In unserem Haus wohnt nämlich eine Zehnjährige, die schon vor über zwei Jahren ihr Herz an die Musik eines Sängers verloren hat. Seine Musik bringt sie zum weinen und macht sie fröhlich, sie hört sie rauf und runter, verbindet bestimmte Erlebnisse damit und lässt sich von ihr durchs Leben begleiten. Seine Musik erfüllt für sie alles, was Musik im Leben eines Menschen im besten Sinne erfüllen sollte. Wenn du zehn Jahre alt bist, dann sind zwei Jahre eine sehr lange Zeit, sie fällt schon fast unter lebenslange Treue. Konzerttickets sind eine rare Angelegenheit, weil Konzerte eine rare Angelegenheit sind (auch wenn wir hier nicht von Taylor Swift sprechen). Letztes (!) Jahr zum Weihnachtsfest erfüllte sich der große Mädchenwunsch und die heiß ersehnten Tickets lagen unter dem Tannenbaum. Tickets für den Juli diesen Jahres! Das bedeutete also eine Wartezeit von über einem halben Jahr, bis das Weihnachtsgeschenk endlich ausgepackt werden würde.

Blöderweise habe ich dann festgestellt, dass ich Tickets für ein Datum erworben hatte, an dem es schlicht unmöglich gewesen wäre das Konzert zu besuchen. Außer das Mädchen hätte das Ende seiner eigenen Grundschulzeit verpasst, und die seines Zwillingsbruders gleich dazu. Naja, wer Denkfehler macht, der muss sie wieder in Ordnung bringen. Vor allem, wenn soviel Herzblut involviert ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Lösung und ab da wurde es eventuell ein wenig wahnsinnig. Ich fand Tickets. Für ein Konzert in den Ferien. In Füssen. Am staureichsten Wochenende des Jahres. 500 km von uns entfernt. Und ich schlug zu, obwohl ich kaum etwas mehr hasse, als lange Autofahrten. Ich buchte ein Hotelzimmer, denn 1000 km würde ich keinesfalls an einem Tag schaffen, schon gar nicht nach einem Konzert. Das besondere an diesem Ort aber war, dass wir schon einmal gemeinsam ein langes Wochenende dort verbracht hatten, es war ihr Geschenk zur Erstkommunion gewesen. Außerdem weiß ich ein bißchen Wahnsinn von Zeit zu Zeit ja durchaus zu schätzen.

Freitagmorgen um fünf Uhr fuhren wir los. So lange hatte mein Mädchen auf diesen Tag hingefiebert, endlich war es so weit. Es ging alles ganz wunderbar, ich fand sogar einen Parkplatz und wir gingen erstmal frühstücken. Füssen ist eine ganz zauberhafte Stadt, die Sonne schien und die Aufregung stieg, bis es kaum noch auszuhalten war. Im Hotel schmiss sich das Fangirl in die passende Klamotte, ich wollte mich nur kurz nach dem Stand der Dinge zu Hause erkundigen- da sah ich die Mail. Das Konzert war abgesagt worden. Drei Stunden vor Beginn. Wegen Krankheit. Und auf einen Schlag brach eine ganze Welt zusammen. Was machst du da, frage ich dich? Ich hielt mein schluchzendes Mädchen in den Armen, bis sie einschlief, denn soviel Gefühlsachterbahn ist kaum zu bewältigen.

Ich weiß natürlich, dass es schlimmere Schicksalsschläge gibt, na klar. Aber in einem handelsüblichen Kinderleben musst du damit erstmal zurechtkommen. So ist es nun mal, das Leben, es hält Enttäuschungen bereit, nicht jede Gleichung geht auf, manches geht in die Grütze, manches mal ist es unfair, manches mal einfach, verzeih mir, scheiße. Was ich getan habe, fragst du dich vielleicht. Ich habe den Schmerz des Mädchens ausgehalten und puh, das war nicht einfach. Ich habe ihn nicht kleingeredet, weggewischt oder auf das hübsche Ambiente verwiesen. Denn ich bin wirklich davon überzeugt, dass das der schwere aber einzige Weg ist, wenn die Gleichung nicht aufgeht. Egal ob es um ein Konzert, um Liebeskummer, versemmelte Prüfungen, schlechte Noten, verlorene Fussballspiele, geplatzte Träume oder andere Fiesigkeiten geht. Man darf sie nicht klein reden wollen, mit der schnellen Lösung mundtot machen, zukleistern, fortzaubern. Wenn dir ein Mensch lieb ist, dann halte seinen Kummer aus.

Was ich hoffe? Ich hoffe, dass sich mein Mädchen nicht nur an die Trauer um das verlorene Konzert erinnern wird. Ich hoffe, dass sie sich an ihre Mama erinnert, die zu diesem Wahnsinn bereit war, für sie. An die Berge, den blauen Himmel und das Kummer-Picknick im Hotelbett. An all die Menschen, enttäuschte Konzertbesucher, wie wir, die sie trösteten und ihr gut zusprachen und einfach unfassbar freundlich waren. An die Geschwister zu Hause, die völlig außer sich gerieten, weil sie wussten, dass ihrer kleinen Schwester das Herz gebrochen war. An die Frau, die ihr auf der Straße einen kleinen Stein in die Hand drückte, den sie selbst bemalt hatte und ihr weitergab-zum Trost. An unsere Wanderung zum Lech-Fall, ein kleines Naturschauspiel. An die zauberhafte Rezeptzionistin, die am nächsten Morgen bei ihrem Anblick ausrief: „Du arme Maus, was für eine, verzeihen Sie bitte, Scheiße!!“ An die Bereitschaft von Menschen ihren Kummer mitzutragen und sie und ihre Tränen ernst zunehmen. Letztlich ermöglichte ihr genau das erstaunlich tapfer zu sein. Ja, das hoffe ich wirklich. Denn ich selbst habe es oft anders gelernt, habe gelernt, dass es allein der berühmte Riemen ist, an dem man sich gefälligst reißen soll, der zählt. „Weißt du Mama, was seltsam ist? Das etwas so traurig ist. Und trotzdem ist da viel Schönes!“ Die Gleichzeitigkeit der Dinge. So ist es, dachte ich mir. Und diese Gleichzeitigkeit der Dinge wird anhalten dein Leben lang. Trotz Schmerz Schönheit sehen. Im Lachen manchmal traurig sein. Unter Vielen Einsamkeit spüren. Alleine sein und sich getragen wissen.

Wir stiegen wieder ins Auto, und standen in genau den Staus, die uns zuvor versprochen worden waren. Das Geld, die Zeit, futsch? Ich würde es wieder tun. Nicht jede Gleichung geht auf, es gibt kein Menschenrecht auf Lösungen und schon gar nicht auf ein Leben ohne Enttäuschungen. Das ist vielleicht gar nicht so schlimm. Solange wir da nicht alleine durchmüssen. So lange jemand neben dir sitzt und dich in Ruhe heulen lässt.

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4 Kommentare zu „Unlösbar“

  1. Jetzt hätte ich beinahe geweint. Wegen des Schlags für deine Tochter – wie fies ist das denn! (Ein ehemaliger glühender Kelly Family-Fan fiebert hier mit und hätte ihr das Konzert so sehr gegönnt!) Wegen all dem, was du an Zeit und Geld investiert hast. Und weil du es am Ende ausgehalten und sie getröstet und getragen hast, etwas, was so bitter nötig und wichtig war und mir so schwer gefallen wäre. Ich will auch mit aushalten, mit dem Kind, das sich seit zwei Tagen mit dem Wespenstich quält, wo ich doch auch gerade Unterleibsschmerzen und überhaupt… Danke für die Erinnerung! Und, in Erinnerung an Barbara Kelly, deren letzte Worte „Keep on singing“ gewesen sein sollen – keep on writing!! LG Claudia

  2. Echt cool dass du es gewagt hast.
    Ich bin letztens auch kurzfristig mit 3 Kids 3 Stunden zum o’bros Konzert gedüst.
    Das bleibt lange im Herzen. Inklusiv mit dem nach geholten Konzert.

  3. „Weißt du Mama, was seltsam ist? Das etwas so traurig ist. Und trotzdem ist da viel Schönes!“ Wie schön, dass sie diese Erfahrung trotz allem gemacht hat! Bestimmt wird dieses Wochenende euch unvergessen bleiben.
    Und ich hoffe, dass ihr die Möglichkeit zu einem Nachholkonzert habt, denn das Konzert von Michael Patrick Kelly, auf dem ich im letzten Jahr sein konnte, war richtig toll! Liebe Grüße!

  4. Tja,bei mir hat’s zu Tränen gereicht,aber das kenne ich ja inzwischen ? danke für deine Worte,es ist ein Geschenk,sie lesen zu dürfen. Ja,das Leben ist manchmal wie im Film oder schaut der Film beim Leben ab? Wohl eher Zweiteres. Ziemlich sicher hat das Erlebte schon mal abgehärtet für weitere Enttäuschungen im Leben. Habe den Artikel meiner 10jährigen Tochter zum Lesen gegeben,da es ihr bei der anderen besagten Sängerin genau gleich gehen würde. Viel Trost und Segen für euch??

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