Lernstoff

Es ist Freitag. Freitagvormittag. Kein Mensch außer mir im Haus. Nur der Hund und ich. Ich kann mein Glück kaum fassen! Die letzten Wochen waren wild, das kannst du dir ja vorstellen. Wie es sich für einen ordentlichen Neuanfang gehört rumpelte es an allen Ecken und Enden. Natürlich wurden schon in der ersten Woche die Kinder krank, schön mit Fieber und Mandelentzündung und allem, was dazu gehört. Natürlich funktioniert mein digitales Arbeitsmaterial nicht (Ha! Und ich kann rein gar nichts dafür!!). Und natürlich lässt sich kein Magen Darm Infekt, der irgendetwas auf sich hält, von einer usseligen Mandelentzündung den großen Auftritt zum Beginn der Herbst/Wintersaison versauen. Da eilt er gleich mal übereifrig hinterher, damit niemand vergisst, wer hier Meister der Kotzschüsseln ist. Also, ich renne ausschließlich mir selbst mal wieder hinterher und wenn ich hier und heute in meinem Blogeckchen etwas zur Ruhe komme, dann erwarte bitte keine allzu großen geistigen Ergüsse.

Ich habe in den vergangenen drei Wochen sehr viel gelernt, so viel, wie lange nicht. Zuallererst natĂĽrlich die Ăśberwindung dieses einen bestimmten Punktes, du kennst ihn gewiss. Dieser Punkt an dem alles in dir „Ich will nicht!“ brĂĽllt, „Was fĂĽr eine bescheuerte Idee, alles soll so bleiben, wie es ist!“. Aber es gibt kein ZurĂĽck mehr. Du nimmst all deinen Mut zusammen und springst ĂĽber den Punkt hinweg hinein ins Unbekannte. Solche Punkte tauchen immer dann auf, wenn die Zeit fĂĽr eine Veränderung gekommen ist. Nicht ihr Anklopfen, ihr Planen, ihr theoretisches Durchdenken, sondern der point of no return. Ich frage mich, wie sich dieser Punkt wohl anfĂĽhlt, wenn du beschlossen hast, dich ins Weltall schieĂźen zu lassen. Oder ein menschliches Gehirn zu operieren. Oder vom Zehnmeterturm zu springen. Naja, mir reichen meine kleinen Punkte, die mich so herausfordern, dass ich den Mut-Muskel noch Tage später katern spĂĽre. Der Mut-Muskel katert, aber das Herz hĂĽpft, weil es ein wenig stolz ist und froh. Weil auĂźerhalb der Komfortzone die Aussicht ĂĽberraschend anders ist.

Dann habe ich Namen gelernt, ungefähr 200, na ja, mehr oder weniger. Gesichter und Wege. In der ersten Woche habe ich mich jeden einzelnen Tag auf dem Heimweg verfahren und zwar jedes Mal anders. Jetzt finde ich nach Hause, immerhin. Ich finde auch den Kopierer, das Klo, alle Klassenzimmer und am allerwichtigsten: das Büro mit den klugen Leuten, die sich auskennen. Gott sei Dank sind sie freundlich und haben einen langen Atem.

Was unweigerlich zu einem sehr entscheidenden Lerninhalt führt: um Hilfe bitten! Auf diesem Gebiet lerne ich willig, fix und ohne falschen Stolz, sonst wäre ich tatsächlich verloren. Die Klassen um Hilfe zu bitten ist bis jetzt immer erfolgreich gewesen und so beherrsche ich plötzlich Beamer und Fernbedienungen, droppe Bilder an die Wand, als hätte ich nie etwas anderes getan und führe fehlerfrei digitale Klassenbücher. Es sind freundliche Kinder und Jugendliche und deshalb feiern sie jeden meiner Lernerfolge und lachen mich nicht aus. Ich lerne sie kennen und damit auch, wie sehr sich die Welt verändert hat, ihre Welt, ihr Reden und Handeln. Und manches scheint sich niemals zu ändern, war schon so als ich die Schule besuchte, einfach weil es zum Menschsein und Großwerden dazu gehört. Erwachsenwerden kann man nicht digitalisieren und das finde ich einen äußerst beruhigenden Umstand.

Noch komme ich nach Hause und falle umgehend in eine Art Wachkoma. In mehreren schlauen Podcasts habe ich jetzt gehört, dass alles mit allem zusammenhängt. Also inwendig. Im Menschen. Du hast nur ein bestimmtes Kontingent an Kraft und Ressourcen. Egal welches Deiner zahlreichen Systeme, Nerven, Muskeln, Hirn, Seele, diese Energie zieht- wenn sie aufgebraucht ist, ist sie aufgebraucht. Denn alle Systeme bilden schließlich ein Ganzes. Dich. Meine Systeme laufen offenbar gerade auf Hochtouren und wären ab 14.00 Uhr bereit schlafen zu gehen. Geht natürlich nicht. Aber ich sitze ein Weilchen ganz still und versuche die Gedanken und Eindrücke an die richtigen Stellen rutschen zu lassen. Greife nur noch selten zum Smartphone, um mich nicht endgültig zu überreizen. Staune stattdessen Spätsommerrosen an.

Der Lernstoff geht uns zu Hause auch nicht aus, das ist klar. Kinder lernen selbstständig ihre Betten zu machen, die Spülmaschine auszuräumen und Schmutzwäsche an die richtige Stelle zu entsorgen. Ich lerne darauf zu bestehen. Der Hund lernt vormittags alleine zu sein. Wir alle lernen täglich neu, wie wichtig Gnade ist. Mit uns, miteinander, mit den Umständen. Ich habe in den letzten Wochen Geschichten gehört, die mir das Herz zerreißen. Das Leben kann Menschen, kleine und große, auseinandernehmen, bis kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben scheint. Ich kann nur zuhören, mitfühlen, mitbeten. Und mich erinnern, wie kostbar das Leben ist, was für ein Geschenk, für ein wertvolles Gut. Das ist wohl etwas, was wir ein Leben lang lernen müssen, immer wieder neu. Weil wir vergesslich sind und gerne für selbstverständlich halten, was längstens nicht selbstverständlich ist. Gesunde Kinder, wohlbehalten in ihren Betten. Liebe, die überlebt. Kraft, die ausreicht. Die Tasse Tee, die mir meine Tochter jeden Abend hinstellt. Lernen und Gestalten dürfen, ganz gleich, wie alt du bist. Aufbrechen, wenn es Zeit für die Veränderung wird. Und mutig springen.

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2 Kommentare zu „Lernstoff“

  1. Wieder mal ein grosses Dankeschön. Habe mehrmals geschmunzelt und fand es doch sehr erbaulich! Danke und viel Kraft.

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