Da bin ich. An einem Montagmorgen. Ehrlich gesagt eher unfreiwillig. Einer der vielen Viren, die zur Zeit fröhliche Urstände in unserem Daheim feiern, hat sich wohl gedacht, dass ausgerechnet ich ein gefundenes Fressen für die Party sei. Also reihe ich mich ein in unseren schniefenden Krankenreigen und liege relativ nutzlos auf dem Sofa herum. Ein Gutes hat es- es ist Montag und ich bin hier.
In den letzten Wochen und Monaten denke ich viel über das Sterben nach. „Boah“, denkst du vielleicht, „geht´s vielleicht auch eine Nummer kleiner?!“ Eventuell vergewisserst du dich mit einem schnellen Blick in den Kalender, aber nein, wir haben nicht schon wieder November, dieser einzige Monat, dem wir ein paar düstere Gedanken offiziell zugestehen. Nein, keine Bange der Oktober ist in vollem Gange, voller Ernte und voller goldener Sonne. Ich bin auch nicht übergeschnappt und denke dunkel, nur weil mich etwas Fieber und Eiter in der Nebenhöhle zu Ruhe zwingen. Ich mag bekennende und praktizierende Hypochonderin sein, aber gar so schlimm ist es dann doch nicht. Ich denke trotzdem über das Sterben nach. Einfach, weil es mir in diesem Jahr an allen Ecken und Enden begegnet. Im Frühjahr stand ich selbst am Grab eines geliebten Menschen und der Abschied dauert bis heute an. Freunde und Freundinnen müssen loslassen, werden zu Hinterbliebenen und letzten Wegbegleitern. Ich erlebe hautnah, wie unendlich schwer Alt werden sein kann, wie beängstigend, wie schmerzhaft und auch entwürdigend. Erst vor wenigen Wochen durfte ich einen ganz jungen Menschen kennenlernen, dessen Lebensspanne nach menschlichem Ermessen bald vorüber sein wird. Wann immer sein Stuhl leer bleibt, wird mein Herz bleischwer und ich kann nicht mal erahnen, welche Hölle manche Familie hier auf Erden durchlebt. Da bleibt Hoffen und Beten und die Bitte um offene himmlische Arme, aber was nicht bleiben darf sind Worte, die relativieren und begütigen wollen, was nicht zu relativieren und zu begütigen ist.
Der Tod gehört zum Leben, daran führt kein Weg vorbei, und auch wenn die meisten Menschen nicht darüber nachdenken, geschweige denn reden wollen, so ist es nun mal die wahrscheinlich einzig absolute Gewissheit, die für die ganze Menschheit gilt und auch relativ unumstritten ist. Was ich aber in den letzten Wochen mehr und mehr begreife, was mich wirklich beschäftigt und umtreibt ist die andere Seite der Medaille: Das Leben gehört zum Tod. Bei allem was ich zur Zeit erfahre, kristallisiert sich diese für mich seelenerschütternde Erkenntnis heraus. Die Art und Weise, wie wir dereinst die Heimreise antreten hängt unmittelbar damit zusammen, wie wir hier und heute, jetzt und hier unser Leben gestalten. Damit meine ich jetzt nicht die persönliche Fürsorge für den eigenen Körper, dieses Wunderwerk aus Organen, Muskeln, Knochen und einem faszinierendem Gehirn, so unerlässlich das auch ist (Kümmere dich! Kümmere dich, denn das übernimmt niemand für dich!) Vielmehr meine ich, welche Beziehungen ich pflege, welchen Umgangston ich wähle, um wen ich mich sorge, wie weit ich mein Herz öffne, welche Haltung ich einnehme. Liebe und gute, gewachsene Beziehungen scheinen die einzig nahrhafte und lindernde Wegzehrung für die letzten Augenblicke zwischen Himmel und Erde zu sein. Die kannst du dir aber nicht auf den letzten Metern schnell in der Apotheke besorgen, auch nicht auf Rezept. In die musst du investieren, heute schon, sie suchen, hüten, wachsen lassen, dich investieren, wieder und wieder und wieder, Nachsicht üben und Gnade. Am Ende deines Lebens wird es völlig gleichgültig sein, wie viele Autos in deiner Garage stehen und welche Marke dein Pullover hat. Am Ende zählt, wer an deiner Seite steht, bei wem du dich geborgen fühlst, wem du vertraust, wer deine Hand hält, bevor dich die Hände Gottes halten. Also ja, am Ende zählt auch der Anruf, den du heute nicht verschiebst, das Lächeln, das du schenkst, das Vertrauen, die Umarmung, der entscheidende Schritt auf den anderen zu. Der Brief, den du schreibst und das Ohr, das du leihst, das Verständnis, um das du ringst und das vorschnelle Urteil, das du dir verkneifst. Es zählt. Die Verwundbarkeit, die du zeigst, die Ehre, die du erweist, der Respekt und die Gnade und jedes Fitzelchen Dankbarkeit.
Deine Liebe zu deinen Menschen und zu den Menschen, deine Beziehungen zählen und, so meine ich zu erkennen, die Fähigkeit Frieden zu schließen. Bitterkeit im Herzen zu züchten macht Leben und Sterben schwer. Was wurde mir alles nicht zu teil, wo kam und komme ich zu kurz, was hätte so niemals geschehen dürfen, was war und ist furchtbar ungerecht?! Ja bestimmt jede Menge! Aber Frieden zu schließen, immer und immer wieder, mit sich selbst, den Umständen und den nächsten Menschen, ja auch den übernächsten, erscheint mir unerlässlich. Damit muss man unter Umständen täglich wieder neu anfangen, aber alles ist besser als Misstrauen, Unfrieden und gepflegter Groll. Einfach ist anders, aber es ist der Weg, der dein Leben, ganz gleich wie lange es hier auf Erden währen wird, mit Gutem füllt.
Im Oktober feiern wir Erntedank und vielleicht ist das Ende eines Lebens auch eine Art Erntedankfest. Ernten kannst du nur, wenn du gesät hast, wenn du dich gekümmert hast und investiert. Natürlich gibt es die äußeren Umstände, natürlich gibt es Hagel und Sturm und Ungezieferplagen. Nicht alles kannst du beeinflussen. Aber manches eben schon.
In den letzten Wochen und Monaten denke ich viel über das Sterben nach. Aber noch mehr über das Leben. Wie will ich leben, was ist mir wahrhaft wichtig, worin will ich mich investieren? man kann das eine nicht ohne das andere denken. in den letzten beiden Tagen erschüttern die Nachrichten der Welt unsere Herzen. Bei aller Unfassbarkeit, bei allem Schrecken, bei allem Grauen, bestärkt es mich. In meinem Stück Leben will ich Liebe und Frieden säen, auch wenn die Geier kreisen. Ich will festhalten am Glauben an das Gute, an freimachende Botschaften, an der Kostbarkeit von Freundlichkeit. Wir müssen weiter säen und hüten und pflegen, damit die Welt keine geschotterte Wüste ohne Leben wird.
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Lieben Dank für die guten Worte!
Liebe Frau Geissler,
Vielen Dank für Ihre Worte, die mir wie immer viele gute Leseminuten bringen und danach den Anlass, um über Ihre Worte nachzudenken. Ihre Worte und Gedanken berühren immer etwas in mir.
Liebe Grüße
Elke Horsten