Dosen-Test

Wir hatten ungewöhnlich lange Herbstferien, fast zweieinhalb Wochen. Darüber kann ich mich nicht beklagen, denn ich konnte sie mit viel Gutem füllen. Weil auch die längsten und gemütlichsten Ferien irgendwann ein Ende haben, schlägt unweigerlich die Stunde der Brotdosen. Wenn ich diese länger nicht gesehen habe fällt mir immer eine kleine Geschichte ein, die mir vor einigen Jahren eine Freundin erzählte. Ihr heranwachsendes Kind sah sich in seiner Klasse mobbenden Mitschülern ausgesetzt und auf Nachfrage beim zuständigen Klassenlehrer bekam man eine erstaunliche Antwort. Wer einem Kind in der siebten Klasse noch eine gefüllte Pausenbrotdose mitgebe, müsse sich über Mobbing nicht wundern. Es sei quasi logische Konsequenz. Ich weiß, ich weiß-die Geschichte klingt absurd, zumindest in meinen Ohren und in deinen, aber so war es. Falls es dich tröstet: die Freundin, das gemobbte Kind und eine ganze Klasse ging einen langen, steinigen Weg der Friedenssuche und alle dürfen essen, was sie wollen oder eben auch nicht.

Mich hat diese Begebenheit nachhaltig beeindruckt und schon damals befragte ich besorgt mein eigenes heranwachsendes Kind in ähnlichem Alter. Es starrte mich erstaunt an und meinte lapidar: „Bei uns hat jeder eine Brotdose dabei, wirklich jeder. Da fällst du nur unangenehm auf, wenn du mit einer Chips-Rolle um die Ecke kommst“. Sprachs und krallte sich die Stulle in der Dose. Seither mache ich immer mal wieder diesen kleinen Dosentest, nur aus Neugier und um sicher zu gehen. Falls du jetzt denkst, dass ich eventuell eine blöde Kuh geworden sein könnte, die sich selbst zu so viel Redlichkeit, Fürsorge und ordentliches Mensch- und Mutter-sein gratuliert, dann kann ich dich beruhigen.

Für mich ist dieser Test ein Alarmklingeln in meinem Kopf, das mich erinnert, wie herrlich gemütlich es sich in einer Blase leben lässt. In diesem Falle besucht ein Kind eine Klasse, in dem sich nahezu ausschließlich Schüler mit Eltern befinden, die für gefüllte Brotdosen und sauber Sportsachen, für passendes Schuhwerk zu allen Jahreszeiten und Nachhilfe in Mathe sorgen. Großartig, wie richtig wir das alle machen. Dabei neigt man zu vergessen, dass es andere Klassen mit anderen Kindern und anderen Eltern gibt. Die, in denen gefüllte Brotdosen für Pubertisten und der ganze restliche Zinnober nicht vorgesehen sind. Die einen handeln so, weil schlicht die Ressourcen fehlen, die anderen, weil sie das Ganze für großen Quatsch halten. Gerade letztere leben womöglich in einer Blase, ganz ähnlich der meinigen. Sie gratulieren sich zu autarken Kindern, zu Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit und schütteln den Kopf über die Wahnsinnigen, die einem 13 jährigen noch ein morgendliches Käsebrot schmieren. Je nach Neigung komme ich womöglich auf die Idee, meine Sicht der Dinge als die einzig richtige zu sehen und ihr verbal oder mobbend Ausdruck zu verleihen.

Ich werde dieses kleine Beispiel jetzt nicht in unangemessener Weise auf die große Weltbühne hieven, nein, wirklich nicht. Aber ich spiele es auf meiner eigenen kleinen Bühne des Lebens. Mehr und mehr begreife ich, dass der Mensch seine Blasen braucht. Es ist nichts verkehrt daran, sich Gleichgesinnte zu wünschen und zu suchen. Menschen, bei denen du dich wohlfühlst und geborgen, wo du dich nicht ständig positionieren und abarbeiten musst, wo es vollkommen ausreicht, die zu sein, die du nun mal bist. So eine Blase vermittelt Sicherheit und Trost, schließlich steht man nicht allein in der Welt, gibt es ähnlich Handelnde, ähnlich Fühlende und Denkende. Es braucht solche Zufluchtsorte, gerade wenn der Lärm der Welt immer lauter wird.

In den Ferien durfte ich beispielsweise nach Essen verreisen und traf dort auf all die wunderbaren Menschen, die zusammen das Team der „family“-Redaktion bilden. Es fühlte sich auch dieses Mal, wie Heimkommen an. Bei allen Unterschiedlichkeiten spazieren diese Leute in ganz ähnlicher Art und Weise durchs Leben, haben die gleiche Geisteshaltung, eine mir vertraute Sicht auf den Menschen, auf sich selbst und den Lauf der Welt. Zwei Tage in dieser Blase sind wie ein warmes Bad, wenn du lange gefroren hast, wie eine kleine Kur für müde Herzen. Ich kehrte satt und zufrieden in meine kleine Familienblase zurück.

Die Ferien waren ungewöhnlich lang und ungewöhnlich nass. Wir verbrachten viel Zeit inhäusig, spielten alte Spiele, rückten zusammen und bald brannte das erste Feuer im Ofen. Draußen tobte das Geschrei der Welt, ihre ganze Not und Zerrissenheit und wir hier hatten es gut miteinander. Wie dankbar ich bin für ein warmes Zuhause, für Menschen, die zu mir gehören, für kluge Bücher und warmen Apfelkuchen. Wir brauchen Menschen und Orte, die ein Zuhause sind, bei denen wir ausruhen können, atmen und frei sein. Aber es wäre fatal zu vergessen, dass es immer nur eine sehr kleine, sehr eigene Welt ist. Eine Welt unter unzähligen anderen. Nur weil wir einander Recht geben, heißt das nicht, dass wir recht haben. Es gibt keine absoluten Wahrheiten, nicht die eine Sicht, der eine Weg. Was für mich unumstößlich gilt, kann dir die Haare zu Berge stehen lassen. Wenn wir Frieden säen wollen, Frieden wachsen sehen und Frieden ernten, dann zählt jeder kleine Schritt, jedes winzige Korn. Ich muss anerkennen, dass meine Sicht, meine Wahrheit, meine Meinung eben nur das ist: meine. Ich will sorgfältig umgehen mit der deinen. Mit deiner Welt, deiner Sicht, deiner Wahrheit, dem was du für unumstößlich hältst. Ich muss es nicht immer verstehen, ich muss dir nicht zustimmen, ich muss mit dir nicht einig sein. Aber respektieren muss ich dich und achten. Gut mit dir umgehen und die Freundlichkeit nicht verlieren, womöglich hast du Recht, an der ein oder anderen Stelle. Zuhören möchte ich und begreifen. Ich will nicht niederschreien, was mir gegen den Strich geht, nicht mit Verachtung bestrafen oder mit Lästerei. Frieden fängt schon bei einer Brotdose an und der Art und Weise, wie wir damit umgehen, dass manche voll sind und manche leer. Schwer genug ist es, keine Frage.

Es ist mein kleines Beispiel für meine kleine Lebensbühne, mehr nicht. Die große Welt ängstigt mich, die Pöbeleien und Übergriffe im eigenen Land noch mehr. Ich wurde von einem Mann großgezogen, der sich als Heranwachsender an der Front, mitten im russischen Eiswinter wiederfand. Ein Trauma, das er überlebte, aber nie verwandt. Seit ich lesen konnte bekam ich von ihm die gesamte Kinder und Jugendliteratur über diese Zeit, über das Leben unserer jüdischen Mitgeschwister. Nie wurde er müde, zu mahnen, zu warnen und aufzuklären. Ich kann nicht die große Bühne der Welt bespielen, nein, wirklich nicht. Aber in den Welten, in denen ich mich bewege, will ich ein Licht des Friedens in die Fenster stellen und Käsebrote in Dosen legen.

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5 Kommentare zu „Dosen-Test“

  1. Danke! Du und das Familyteam ( mittlerweile vertraute Gesichter auf dem Foto) sind mir ein Halt, Freude und Bestärkung in einem Leben. Herzlichen Dank dafür und für immer ehrliche Worte!!!! Birgit

  2. Ach liebe Sandra, DANKE! Wieder einmal. Für Worte die sich ein wenig wie nach Hause kommen anfühlen. Grüße von einer Mama die sehr schlecht mit Pausenbroten ist und immer hofft, dass das Kind deshalb nicht geärgert wird 😉 .

  3. Dein Blogbeitrag hat mich tief berührt. Die Geschichte mit der Brotdose verdeutlicht auf eindrückliche Weise, wie unterschiedlich die Realitäten und Herausforderungen in den Lebenswelten von Kindern sein können. Es ist faszinierend, wie du die Bedeutung von Blasen beschreibst – Orte der Geborgenheit und des Verständnisses. Die Ferienzeit und dein Ausflug nach Essen mit dem „family“-Team klingen nach kostbaren Momenten der Gemeinschaft.

    Die Erkenntnis, dass unsere Sicht der Dinge nicht die einzige Wahrheit ist, und der Appell zum Respekt und zur Achtung gegenüber anderen Perspektiven sind sehr wichtig. Deine Bereitschaft, zuzuhören und zu verstehen, statt zu verurteilen, zeugt von einer tieferen Weisheit.

    Auch deine persönlichen Erinnerungen an die Geschichte deines Vaters und die Verbindung zu den Grausamkeiten vergangener Zeiten unterstreichen die Dringlichkeit eines respektvollen Miteinanders. Dein Wunsch, in den Welten, in denen du dich bewegst, ein Licht des Friedens zu setzen und Käsebrote in Dosen zu legen, ist eine schöne Metapher für den Beitrag, den jeder Einzelne leisten kann.

    Danke für diesen inspirierenden und nachdenklich stimmenden Beitrag.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Die Lesenase

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