Etappen

Vielleicht erinnerst du dich? Im Sommer hatte es mich und meine Sippe in die italienischen Alpen verschlagen, Berge also. Was macht man in den Bergen? Man bestaunt sie ausführlich und begibt sich selbstredend auf Wanderschaft. Die einzigen Berge durch die wir bis dahin gewandert waren, waren die heimischen. Bei rheinhessischen Weinbergen sind die Höhenmeter eher überschaubar gehalten. Ich habe mich natürlich gründlich auf diese Reise vorbereitet. Wanderschuhe für alle, Blasenpflaster en gros, Trinkflaschen in allen Variationen, literweise Sonnencreme und Taschentücher, weil- die kann man immer brauchen.

Hochmotiviert starteten wir unsere erste Wanderung, die für geübtere Zeitgenossen wohl eher in die Kategorie strammer Spaziergang gefallen wäre. Die Bedingungen hätten nicht besser sein können, die Sonne strahlte, die Kulisse gab alles uns zu beeindrucken. Das konnte nur großartig werden. Wurde es auch. Zumindest die erste halbe Stunde. Dann wurde der Pfad immer unwegsamer, ein einziges steiniges Wurzelwerk. ein steil ansteigendes Wurzelwerk. Die Köpfe nahmen eine interessante rote Farbe an, meine Knie erinnerten sich schlagartig daran, dass bergauf und bergab laufen noch nie richtig leiden konnten. Die Wasserflaschen waren schon geleert, Verwünschungen hallten durch die Luft. Teile unserer Nachkommenschaft zogen ernsthaft in Erwägung sich zur Adoption freigeben zu lassen. Eine Wanderung zu planen ist etwas gänzlich anderes, als sie tatsächlich auch zu laufen. Die ersten Blasenpflaster wurden benötigt, die ersten Tränen tropften. Schritt für Schritt kämpften wir uns den absurd steilen Weg nach oben. Zum Leidwesen einiger erreichten wir den Gipfel nie. Die Alpen sind tatsächlich sehr hoch. Aber eine annehmbare Höhe erreichten wir schon. Eine mit phantastischer Aussicht und einem Plätzchen zum Picknicken. Gut, es gab auch Ameisen, aber nicht so wahnsinnig viele. Auf dieser Höhe konnte man eine ganze Weile entspannt geradeaus laufen. Die Stimmung stieg kongruent zum Stolz, wir hatten sogar noch Gummibärchen. Dann begann der Abstieg, aber das ist eine andere Geschichte und ich fürchte, ich bin die einzige, die dabei nicht so gut wegkommt. Planung ist das halbe Leben, wohl wahr, aber eben nur das halbe.

Ich denke an diese hübsche, erste kleine Wandererfahrung während ich Fotos in Geburtstagsalben ziehe. Es steckt keine bahnbrechende neue Erkenntnis darin, aber eine wichtige Erinnerung. Kurz nach diesem Urlaub machte ich mich auf zu einer kleinen Wanderung in einen neuen Lebensabschnitt als aushäusig Berufstätige. Ich hatte mich natürlich gründlich vorbereitet. Materialien, Pläne, Taschentücher, alles lag bereit und es sollte großartig werden. Wurde es auch, zumindest in den ersten Wochen. Und jetzt? Jetzt ist November. Mein Körper fühlt sich an, als müsse er einen absurd steilen Pfad bergauf laufen. Ich hatte vergessen, wie anstrengend Familienalltagsnovember ist. Wie anstrengend und nervenaufreibend das erste Halbjahr der vierten Klasse für kleine Menschen ist, die große Veränderungen wittern. Wieviel Lebensumbrüche gerade in unserem Haus stattfinden, wieviel Pubertät, wieviel Mitte des Lebens, wieviel Dreck sich erstaunlich schnell in Ecken sammelt. Meinem Herz fällt schlagartig wieder ein, dass der Schöpfer wohl versehentlich vergessen hat, ihm einen Filter für all die Emotionen, die eigenen und die der anderen, einzubauen, anders kann ich mir es nicht erklären. Ich hatte nicht bedacht, dass ich auf diesem Weg eine Lernende sein würde, der manches misslingt und wie mühselig das für eine sein kann, die immer alles richtig machen will. Es sind diese Novembertage, in denen du dir zur Arbeitserleichterung einen Trockner kaufst und zwei Tage später stirbt die Waschmaschine einen tragischen Tod. Planung ist das halbe Leben, wohl wahr, aber eben nur das halbe. Der Rest ist Improvisation, suchen, raten, stolpern.

Ich bin nun lange genug in diesem Leben unterwegs um zu wissen, dass man immer wieder auf diese absurd steil anmutenden Abschnitte des Weges trifft. Schritt für Schritt musst du dich nach oben kämpfen, es bleibt dir ja auch ehrlicherweise nicht viel anderes übrig, verharren und erstarren ist nur augenblicksweise eine gute Idee. Nach der freudigen Aufbruchsstimmung folgt in hübsch zuverlässiger Regel eine Zeit des schweren Bergauf. Du brauchst ein paar Blasenpflaster. Ein Lieblingsplatz vielleicht, mit einer wärmenden Decke, Bücher, die dir vertraut sind, eine Tasse Tee zum festhalten, ein Heft zum reinschreiben, einen Arm zum Trösten. Ein paar Taschentücher, denn die kann man immer gebrauchen. Frische Luft und einen Stift, der beherzt alles Überflüssige aus dem Kalender streicht. Ich persönlich finde auch ein paar Verwünschungen dann wann durchaus angebracht. Zur Adoption freigeben will ich mich nicht. Ich will festhalten an meinem Vater, von dem ich so sehr glaube, dass er mich gerade jetzt nicht alleine lässt. Der hinter mir, neben mir, vor mir läuft, und achtgibt, dass ich nicht stürze. Irgendwann, so will es die Gesetzmäßigkeit des Lebens, erreichst du eine gewisse Höhe. Dort kann man dann gemütlich eine ganze Weile bequem geradeaus laufen. Die Aussicht ist spektakulär, auch wenn du vielleicht nicht die höchsten Gipfel erklommen hast. Zeit für ein Picknick, Zeit zum Kräftesammeln und Genießen. Ich weiß es. Ich vergesse es nur hin und wieder, während ich mich zeternd Schritt für Schritt den Berg hoch mühe und mit meiner schlechten Kondition hadere.

Vielleicht bist du auch gerade bergauf unterwegs. Vielleicht gehörst du auch nicht zu denen, die gemsengleich von Stein zu Stein bis zum Gipfel hüpfen, mühelos nahezu und ohne zu schnaufen. Vielleicht musst du dich auch Schritt für Schritt nach oben kämpfen, mit hochrotem Kopf und schmerzenden Knien. Dann sei gewiss. Du bist nicht allein. Es kommen auch wieder leichtere Tage. Du spazierst dann um einiges klüger und weiser die Ebene entlang, ein wenig stolz, auf dass, was du bewältigt hast, dankbar für das Wunder des Lebens, das nie starr ist, sondern immer in Bewegung, bergauf, bergab, ein Stückchen geradeaus.

Ich grüße dich in deinen November und wünsche dir allen Segen. Den sollte jeder bei sich haben, egal, wo er gerade umeinanderläuft.

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1 Kommentar zu „Etappen“

  1. Oh wie sind deine Worte tröstlich… Ich bin auch am Ausloten, Schule, Kinder, Haushalt, Partnerschaft… und mich gibt es ja auch noch… Ein schönes Bild mit der Wanderung. Danke.

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