Eine Frage des Charakters

Letzte Woche durfte ich eine interessante Unterhaltung fĂĽhren. Einige meiner geliebten Nachkommen haben ein äuĂźerst gespaltenes Verhältnis zur deutschen Rechtschreibung und zwar in einem AusmaĂź, das eine Ursachenforschung dringend erforderlich machte. Und so unterzogen die willigen Kinderlein sich bereitwillig der nötigen Testungen und das Ergebnis der ganzen Untersucherei wurde mir eben letzte Woche präsentiert. Der sehr nette und erfahrene Psychologe erklärte mir Tabellen und Kurven, Ursachen und Wirkungen in allen Details. Mir schwante nichts Gutes. Und rumms, da kam es auch schon. Nein, von einer Legasthenie könne gar keine Rede sein. Noch nicht mal von einer Störung könne man da sprechen. „Das, liebe Frau 7geisslein, ist eine Frage des Charakters!“ Wirklich? Keine Störung? Noch nicht einmal eine klitzekleine? Irgendetwas, was die wartende Lehrerschaft beruhigen konnte? Eine hĂĽbsche Diagnose mit dazugehörigem Lösungsweg? Nein, wirklich nicht. Und er erklärte mir sehr ausfĂĽhrlich und anschaulich das Wesen des impulsiven Menschen. Zahlreiche Alltagsbeispiele fĂĽhrte er auf, sowohl aus dem Kinder als auch aus dem Erwachsenenleben.  Ich sank immer tiefer in die Polster. Ich hörte vom einen Ende der Messlatte, bei dem man von zukĂĽnftigen Steuerberatern ausgehen könne. Von Menschen, die Pluszeichen mit dem Lineal ziehen und eher malen als schreiben, fĂĽr die Ausmalbilder eine Freude sind und 1000 Teile Puzzle eine Wonne. Und ich hörte vom anderen Ende der Messlatte, zu der offensichtlich meine Kinder gehören. Von Menschen die bei Ikea ein Regal kaufen, die Packung aufreiĂźen, das Bauen anfangen, auf halber Strecke merken, dass es nicht funktioniert um sich dann auf die Suche nach der Bedienungsanleitung machen. Spontan und impulsiv, immer drei Bälle auf einmal in der Luft, der Geist immer in Bewegung.  Ein Wort schreiben und in Gedanken schon drei Sätze weiter sein. Erst schwieg ich erschĂĽttert, dann fing ich an zu lachen und zwar wirklich von Herzen. „So bin ich“, japste ich. „Ja, “ sagte er. „So sind Sie. Und so sind ihre Kinder. Das ist nun mal zu 90% erblich.“

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Pricken und Mandalamalen sind nicht ihre Welt

Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde es mir. So bin ich. Cluburlaub am Pool wäre für mich Folter, Ferientage ohne Struktur sind ein Albtraum. Mittagsschlaf ist eine Strafe. Ich habe gerne mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, ich brauche Listen, um nichts zu vergessen. Sortierte Tupperware ist ein Mysterium.  Ich bin sehr bedürftig nach Ruhe und Stille, aber nie verharre ich dabei im Nichtstun. Noch nie konnte ich am Schreibtisch arbeiten, immer irgendwo am Boden oder draußen und kaum etwas verschreckt mich mehr, als ein Film in Überlänge.  Ich agiere immer aus dem Bauch heraus, das Herz zeigt mir den Weg, selten angewandte Vernunft. So bin ich. Ein impulsiver Mensch.

Am Ende unseres Gespräches sagte dieser wunderbare Mann noch etwas ganz entscheidendes: “ Wenn Lehrer und Eltern doch nur begreifen könnten, dass die Menschen einfach verschieden sind. Nicht alles ist gleich Krankheit oder Störung, nur weil es anders ist und nicht in das vorgesehene Schema passt. Sie können ihre Kinder unterstĂĽtzen, aber Sie können sie nicht ändern“

Ich zog meiner Wege und nahm diese letzten Worte mit. Ja, die Menschen sind verschieden und das ist doch erst Mal eine fantastische Nachricht. Man stelle sich eine Welt voller Steuerberater vor. Oder eine Welt voller Menschen, die  ständig ihren Schlüssel vergessen. So, wie wir sind, in all unserer Verschiedenheit, sind wir gewollt und geliebt. Jeder Charakter birgt seine eigenen Herausforderungen, seine eigenen Chancen, aber bitte, es wäre doch sonst auch furchtbar langweilig. Wichtig ist es, selber zu erkennen, aus welchem Holz man nun mal geschnitzt ist. Im Geiste entschuldigte ich mich bei meinen Kindern für all meine Bemühungen, sie zum Pricken oder Mandalamalen zu nötigen (war eh nie sehr erfolgreich), denn ich will sie gerne so annehmen, wie sie nun mal sind, wie sie mir anvertraut wurden. Unterstützen und Fördern- ja! Ändern-nein! Auf gar keinen Fall. So wie sie sind, sind sie wundervoll und gottgewollt.

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aber  Ausdrucksformen gibt es ja viele

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Vor ein paar Tagen hat es den Gatten vom Fahrrad gehauen. Nach dem alle SchĂĽrfwunden  versorgt waren und er die Knieschmerzen einige Zeit erfolgreich ignoriert hatte, wurde er am Freitagmorgen am Knie operiert. Am Abend zuvor fand er einen Brief auf seiner Bettdecke. “ Lieber Papa, ich hoffe es get dir gut und ich denke an dich. Der Liebe Gott beschĂĽtzt dich und Held seine Hende ĂĽber dich. Wenn ich etwas gutes fĂĽr dich machen kann dan sage es mir.“

Impulsiv sein und allein dem Herzen folgen hat eben auch wunderschöne und berührende Seiten. Alles eine Frage des Charakters.

3 Kommentare zu „Eine Frage des Charakters“

  1. Haha, ich fall in die gleiche Kategorie. Töchterlein ebenfalls. Sauber schreiben und malen? Geht gar nicht. Schnell, schnell und dann zum nächsten. Manchmal verzweifle ich daran. Euer Psychologe hat mit gesundem Menschenverstand analysiert. Ich möchte jedes Wort unterstreichen und abspeichern für die Momente, in denen mal wieder viel über die Zeilen gekritzelt wird. Danke!

  2. Ach ja. Wir haben hier auch ein paar solcher Exemplare und ich bin da mittlerweile wirklich sehr, sehr gelassen geworden. Das kann sich natürlich auch manchmal schlagartig ändern, aber alles in allem Ruhe ich da in mir und nehme sie an die Hand, um mit ihnen, ihren Weg zu gehen. Sie haben so viele so gute Seiten.

    Und ich ticke ja auch ein StĂĽck weit so.

    Und: ich sträube mich gegen jegliche Diagnostik, weil ich keine Lust auf einen Stempel habe, der so oder so zu nichts außer vielleicht ein paar mehr Vorurteilen führt. Ich habe das nun schon so oft gehört. Das braucht man auch nicht.

    Liebe GrĂĽĂźe
    Andrea

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