Voll fies

„Das ist voll fies!!“- vor mir steht ein kleines Menschenkind, die Hände vor der Brust verschränkt, Stirn in Falten, Beine gespreizt und fest in den Boden gerammt, die Augen schieĂźen wĂĽtende Blitze in meine Richtung. Ratlos schaue ich abwechselnd auf den menschgewordenen Vulkanausbruch vor mir und den Teller Nudeln mit TomatensoĂźe in meinen Händen. Mir schwant nichts Gutes, „voll fies“ kommt erfahrungsgemäß ungern alleine um die Ecke. Ahh, da folgen schon die Kumpels „immer…“ und “ niemals…“, ähnlich lautstark, wie ihr Lieblingsfreund bringen, sie gerne noch ein paar Tränen und eine groĂźe Portion Verzweiflung mit. Diesem Angriff hat nur wenig entgegenzusetzen, wer nichts weiter in den Händen hält, als einen Teller Nudeln mit SoĂźe. Was tun, was nur? Eigentlich wollte ich diesen Teller nur an ein Geschwisterkind weiterreichen, mit dessen Hilfe der Teller den Weg zum Esstisch finden wĂĽrde, wo wir in ursprĂĽnglich angepeilten zwei Minuten alle gemeinsam anfangen wĂĽrden zu essen. Alle gemeinsam, wohlgemerkt. Zu frĂĽh gefreut. „Immer bekommt sie zuerst, niemals darf ich als erster Essen haben. DAS IST VOLL FIES!“ Vorsichtig und äuĂźerst diplomatisch steige ich in die Verhandlungen ein, weise daraufhin, dass „immer“ und „niemals“ in diesem Falle nicht ganz richtig seien, es auĂźerdem eh schnurz ist, wer zuerst seinen Teller bekommt, weil wir doch ohnehin alle gemeinsam…“ Meine Argumente verhallen ungehört, der Vulkan explodiert munter weiter und ich begehe einen schweren Anfängerfehler, mein knurrender Magen trägt die alleinige Verantwortung fĂĽr diesen Missgriff. „Hier, bitteschön, dann nimm du eben diesen Teller und ich…“ „Mama!!!“, tönt ein schriller Schrei von hinten, „wieso darf er jetzt zuerst, warum? Immer darf er…, niemals….erst gestern…voll fies!!“ Ich lasse umgehend alle guten Absichten fahren, brĂĽlle entnervt: „Schluss jetzt!“ und trage alle Teller eigenhändig zu Tisch, als wäre ich die ĂĽbellaunige, unterbezahlte Kellnerin in diesem Etablissement.

 

Oh, wie ich sie verabscheue, diese „niemals“ und „immer“, die aus nahezu jeder denkbaren Situation eine Hindernislauf mit Hinfallgarantie machen. Egal ob es um die genaue Anzahl von Gummibärchen, Butterkekse oder Vorleseminuten geht- es findet sich jemand, der sich ungerecht behandelt fĂĽhlt. Wen schnallt man im Auto zu erst an, wer darf vorne sitzen, wer darf zuerst ins Auto einsteigen, wem sagst du zuerst Gute Nacht und wer bekommt das letzte StĂĽck Pizza? Wer darf auf den SchoĂź, und wer an die Hand? Wer darf mit Mama in die Stadt und wer wie viele Minuten fernsehen? Wieso bekommt der neue Socken, was hast du mir mitgebracht? Der Gatte und ich sind nette Eltern, jedes Kind soll sich geliebt, gewĂĽrdigt und auf gar keinen Fall ungerecht behandelt fĂĽhlen. Also zählen wir Gummibärchen und Butterkekse, schmeiĂźen niemals eine TĂĽte Chips in die Runde, sondern befĂĽllen kleine SchĂĽsselchen, wir schneiden das letzte StĂĽck Pizza in fĂĽnf winzige Fitzelchen und fahren mit gar keinem alleine in die Stadt, denn mit wem sollte man anfangen? Ich befĂĽlle jetzt erst alle Teller und lasse dann abholen, man stelle sich das mal vor. Wir wechseln ab und teilen auf, wir zählen und wiegen und messen und stellen ernĂĽchtert fest: es geht nicht! Du kannst dir drei Beine ausreiĂźen und alles geben, du kannst dich auf den Kopf stellen und mit der Gerechtigkeitsfahne wedeln, bis dir der Arm abfällt- es bleibt die Quadratur des Kreises, es haut einfach nicht hin. Du verausgabst dich nur völlig, wirst ĂĽbellaunig und gereizt und bist nur ganz knapp davor zu schreien: „immer mĂĽsst ihr so…und niemals könnt ihr einfach…“

 

Wahre Gerechtigkeit gibt es leider erst im Himmel und bis dahin mĂĽssen die groĂźen und die kleinen Menschen lernen, mit der Ungerechtigkeit des Seins zu leben. Und so habe ich beschlossen, meinen Erziehungsauftrag in dieser Hinsicht neu zu interpretieren. Anstatt einem Trugbild von absoluter Gerechtigkeit hinterher zu hecheln, möchte ich meine Kinder lieber lehren, ihren Frust auszuhalten. Das ist nicht einfach, denn ich muss ihn dann schlieĂźlich auch aushalten…. Wir mĂĽssen die gute alte Frustrationstoleranz wieder aus der Mottenkiste holen, tröstende Worte finden und hin und wieder die Ohren auf Durchzug schalten. MĂĽhselig, aber langfristig gesehen, ist es eine Investition ins gute Leben. Es wird immer jemanden geben, der mehr hat, der klĂĽger ist und schöner, dem scheinbar alles zufällt, der besser ist als ich oder schneller. Mann kann wirklich sehr viel Lebenszeit mit Unzufriedenheit und  Ungerecht-Behandelt- FĂĽhlen verbringen, aber wie schade wäre das? Und wieviel besser könnte man diese Zeit nutzen? Wenn ich immer nur auf vermeintlichen Mangel und Ungerechtigkeit schiele, dann vermiese ich mir die Gummibärchen, die ich schon in der Hand halte. Es gibt schon zu viele Menschen, die sich beständig das Leben selbst vergällen, weil sie meinen, zu kurz zu kommen. Was nĂĽtzt all das Klagen, wenn man es eh nicht ändern kann. Und ich hoffe doch schwer, dass meine Kinder nicht an meiner Liebe zweifeln, nur weil ich ihnen hin und wieder erst als zweites die AutotĂĽr öffne.

Aber eines ist bei aller Einsicht natürlich klar: Chips werden weiterhin nur in Schüsselchen serviert und Gummibärchen abgezählt. Alles andere wäre voll fies!

3 Kommentare zu „Voll fies“

  1. Voll fies, Frust aushalten lernen – und doch eine so wichtige Fähigkeit! Danke fĂĽr diesen Text, an dieses Thema muss ich mich immer wieder erinnern, denn ich gehöre natĂĽrlicherweise auch zur Fraktion „es allen (ge)recht machen wollen“… Herzliche GrĂĽsse! Sonja

  2. Das Leben meiner Nichte (7) wird aktuell auch von „voll fies“ und „alles blöd“ geprägt – mögen die Sommerferien doch bitte dieses Jahr im Zeitraffer vorĂĽbergehen ?

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