Ich bin Misophonikerin. Das gibt es tatsächlich und ist eine ganz phantastische Erkenntnis. Ich las schon vor einigen Monaten rein zufällig einen Artikel, der sich mit diesem Thema befasste und stieß einen Schrei der Verwunderung und der Erleichterung aus! Dann fiel ich dem Gatten um den Hals, weil es tatsächlich einen Namen für einen Umstand gibt, unter dem ich schon zeitlebens leide und den ich bis hierher eigentlich nur für eine ziemlich nervige Charakterschwäche meinerseits gehalten hatte. Ist es nicht. Es ist angeboren, irgendwas mit dem Frontallappen muss da schief gelaufen sein, ist auch egal- Hauptsache das Kind hat endlich einen Namen.
Bei Menschen, die unter Misophonie leiden, lösen bestimmte Geräusche ein unvermitteltes Gefühl großen Ärgers und Wut aus, die sie dann nur sehr schwer im Griff haben. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, vor allem wenn man eigentlich ein sehr netter und im Großen und Ganzen verträglicher und freundlicher Mensch ist. Wäre jemand auf der Suche nach geeigneten Foltermethodenn, um meinen Willen zu brechen, er bräuchte sich nicht lange mit eventuellen Ekelhaftigkeiten, wie Fußnägelziehen aufhalten. Kaugummikauen, Schmatzen, Schlürfen, Pfeifen oder mit Bonbons oder Löffel an Zähne klappern reichen vollkommen aus, um mich in eine rasende Furie zu verwandeln. Eine Furie, die alles täte, damit diese Geräusche sofort ein Ende finden. Vierzig Jahre lang dachte ich, dass ich da echt eine ziemliche fiese Charakterschwäche habe, einfach unbeherrscht sei, vielleicht eine seltene Form des Jähzorns? Und genauso lange bemühe ich mich auch um Besserung. Ha! Misophonie kann man gar nicht ändern, es ist, wie es ist. Dumm ist nur: auch wenn ich diese Erkenntnis tatsächlich als äußerst befreiend erlebe, ändert sie doch rein gar nichts an den Folgen. Zum einen nämlich, dass meine Kinder über ganz ausgezeichnete Tischmanieren verfügen, zum anderen gehe ich meinen mir liebsten Mitmenschen gehörig auf den Geist (Fremde und entfernte Bekannte schreie ich in der Regel nicht an- ich funkle höchstens finster mit den Augen…). Und auch wenn meine liebe Familie um den misophonischen Umstand weiß und ich mich schon tausendmal dafür entschuldigt habe, bleibe ich geräuschtechnisch betrachtet, eine ganz schön nervige Zumutung. Sie lieben mich trotzdem.
Abgesehen von der Misophonie, hätte ich noch zwei bis fündundzwanzig weitere Eigenschaften, von denen ich ziemlich genau weiß, dass sie von den Menschen, die mein Leben teilen, eine gewisses Maß an Duldsamkeit fordern. Sie lieben mich trotzdem. Dem Himmel sei Dank, bin ich da nicht die einzige. In einem Haus, in dem sieben sehr unterschiedliche und ausgeprägte Persönlichkeiten leben, offenbart sich die Vielfalt menschlicher Charaktereigenschaften doch sehr anschaulich. Du findest hier tausend gute Eigenschaften, aber auch Ungeduld und Fahrigkeit, kleine Hektiker und verpeilte Tagträumer, Vergesslichkeit und vielfältige Ängste, hin und wieder etwas aufbrausende Temperamente, Gemüseverweigerer und Schmutzresistente. Alles Eigenschaften, die durchaus dazu angetan sind, das Zusammenleben zumindest spannungsreich zu gestalten. Wir lieben uns trotzdem.
„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht….sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles…“ (1 Kor 13)
Wir lieben uns trotzdem und gerade deswegen. Weil die Liebe erst zur echten Liebe wird, wenn der Lack ab ist, wenn ich den echten Menschen, das ganze Paket sehe und erlebe, mit all seinen Ecken und Kanten, mit seinen Gebrochenheiten und nervtötenden Gehörtauchdazus, so wie er nun mal ist, durch und durch Mensch und damit immer auch begrenzt. Und wenn ich dann weiß: trotzdem gehörst zu mir, bist du Teil meines Herzens, lasse ich dich nicht los, du bist wunderbar, so wie du bist, ich kenne dich und ich liebe dich trotzdem, hier darfst du, du selbst sein, ich lasse dich gelten, dann offenbart die Liebe ihren ganzen, großen Reichtum. Die Liebe hat so viele Seiten und die wenigsten davon sind rosarot und zuckersüß. Es braucht Geduld und die Gabe der Vergebung, immer wieder. Das Zurückstehen der eigenen Befindlichkeiten und das Akzeptieren von Grenzen. Aber was wären wir nur ohne? Ohne die bedingungslose Liebe von Müttern, Vätern, Kindern? Von Menschen, die sich wirklich aufeinander einlassen und gemeinsames Leben wagen? Was wäre ich nur, ohne die Liebe meiner Familie? Was für ein Gottesgeschenk, so lebenswichtig, wie der Atem selbst. Jeder Mensch, wirklich jeder Mensch sollte einen Ort haben, an dem er sich in solcher Liebe aufgehoben fühlt, insbesondere jeder kleine Mensch. Eine Familie, einen guten Ort, ein Zuhause, einen Platz zum Ausruhen.
Heute habe ich ein Päckchen Kaugummi gekauft, die Lieblingssorte meines Mädchens- sie kaut sie nur in ihrem Zimmer. Ich werde Suppe kochen, tapfer die Ohren auf Durchzug stellen und dankbar sein, für diesen Ort, an dem ich sein darf.
Liebe Sandra! Ich habe den Begriff Misophonie sofort gegoogelt. Wie spannend! Zuerst dachte ich, dass es eine allgemeine Unverträglichkeit gegenüber Lärm sei, worunter ich selber eben auch leide – aber diese Version ist ja wirklich spannend. Mit all dem, was es für dich und deine Mitmenschen heisst.
Danke für deinen Text. Er ist so wohltuend! Zwei Sätze nehme ich ganz besonders mit: „Die Liebe hat so viele Seiten und die wenigsten davon sind rosarot und zuckersüß.“ Und: „ich kenne dich und ich liebe dich trotzdem, hier darfst du, du selbst sein, ich lasse dich gelten“. Danke dafür! Alles Liebe und herzliche Grüsse!!
Ha, ich auch!!! Und mir gefällt das Wort ‚Misophonie‘ so gut. 😉 Das hört sich so viel besser an als ‚Deine Kaugeräusche treiben mich in den Wahnsinn und wenn du noch einmal neben mir einen Eiswürfel zerbeißt…‘ (Ich meine, wieso kaut man denn bitte auf Eiswürfeln rum??!) Mein Mann hat ernsthaft schonmal versucht, neben mir auf dem Sofa seine Chips zu l u t s c h e n !! Das macht es allerdings nicht wirklich besser.. ha, ha…
Aber ja, auch wir lieben uns trotzdem und deswegen.
Danke für deine wundervollen Worte!!!