In unserem Flur, gleich oben an der Treppe rechts, liegt ein kleines, schwarzes Holzschild. Es liegt da schon seit ein paar Tagen, ach was, es liegt da schon geschlagene zwei Wochen. Wann immer ich die Treppe hochkomme fällt es mir direkt ins Auge, allein ich kann mich noch nicht ĂĽberwinden es aufzuheben. Das kleine Holzschild ist ein etwas windschiefer Piratenhut, schwarz angemalt, Schädel und Knochen ausgesägt und draufgeklebt. Unten dran hängt ein groĂźer Knochen mit der Aufschrift „Piratenhöhle“.
Dieses harmlose kleine Schild fiel vor zwei Wochen einer radikalen Ausmistaktion im Zimmer unseres großen Jungen zum Opfer. Ausgemistet habe nicht ich, das hat er hübsch selber übernommen, ganz ohne Aufforderung oder elterliche Weisung. Es war ihm ein tiefes, inneres Bedürfnis, seinen äußeren, persönlichsten Lebensraum dem veränderten persönlichstem Innenleben anzupassen. Er packte Legokisten und Kinderbücher, Verkleidungssachen und ein paar Playmobilreste in Tüten, beschriftete alles und schaffte das Ergebnis seines Tuns eigenhändig auf den Speicher- alles ohne je von Marie Kondo gehört zu haben. Aus Kinderzimmer wurde Jugendzimmer, das Türschild abmontiert und zur Seite gelegt und da liegt es eben bis heute.
Ich habe noch ein ganz genaues Bild vor Augen, von dem Tag an dem dieses Schild entstand. Ein warmer Sommertag auf der Terrasse, blauer Himmel und ein FĂĽnfjähriger mit Schaffensdrang. Kleine Hände, die ungelenk, aber entschlossen Teamarbeit mit meinen Händen leisteten, die die Laubsäge durch Sperrholz fĂĽhrten, gar nicht so einfach, wirklich nicht. Das empörte Wutgeheul, wenn wieder ein Sägeblatt durchknallte, die Geduld, in der wir uns beide ĂĽbten und der groĂźe Stolz ĂĽber das Resultat unserer MĂĽhe. Ein echtes PiratentĂĽrschild. Jetzt ist der FĂĽnfjährige zwölf und PiratentĂĽrschilder aus Sperrholz verständlicherweise total peinlich. Ich wĂĽrde mir so eines ja auch nicht an die SchlafzimmertĂĽr hängen. Da liegt es nun in der Ecke, gleich oben rechts und das schiefe Totenkopflächeln grinst mir bei jedem Vorbeikommen zu: sie werden groĂź, alles verändert sich, die Zeit, sie vergeht einfach, hält nicht an, macht keine Pause, nicht eine Sekunde lang, der kleine FĂĽnfjährige ist Vergangenheit, unwiderruflich! Boah und mein Herz kämpft. Denn natĂĽrlich muss das alles genau so sein, erfĂĽllt es mich mit Stolz, zu sehen, wie aus kleinen Kindern Leute werden, mit ganz eigenen Gedanken und Meinungen, einem spezifischen Humor und Herzenswinkeln, zu denen ich längst schon keinen Zutritt mehr habe, der Rhythmus des Lebens seit Anbeginn der Zeiten. Ach, aber andererseits…loslassen war jetzt noch nie so meine Stärke.
Wenn du siehst, wie Kisten voller Kindheit auf den Speicher wandern, dann fragst du dich unwillkĂĽrlich, was wird er behalten, dieser Mensch, dem ich mein Herz schon schenkte, lange bevor er seinen ersten Atemzug machen konnte, was wird er behalten von seinen Kindertagen, der Zeit als er ein kleiner Junge war und ich zum ersten Mal Mama? Und ich hoffe so sehr darauf, dass das TĂĽrschild rausfliegt, aber die warmen Sonnenstunden in den es entstand, in seinem Herzen verwahrt sind. Dass das Spielzeug auf den Speicher wandert, aber die gemeinsame Zeit, die leichten und die schweren Stunden, jedes gesprochene Wort, jede Geste der Liebe, dass sie hineingewoben sind in sein Lebensmuster, in die Farben seiner Seele, die immer bleiben.
Also hole ich tief Luft und suche ein passendes Eckchen für das alte Türschild, wo ich es verwahren kann, um es in ein paar Jahrzehnten wieder hervorzukramen. Vielleicht wird es dem erwachsenen Mann dann ein Lächeln entlocken. Ich verschenke mein Herz an einen Zwölfjährigen, mit genau der gleichen Inbrunst, wie damals dem ungeborenen Leben in meinem Bauch, es wird ihm immer gehören.
Heute morgen auf der Fahrt in den Kindergarten hörten wir aus dem Autoradio die Aufforderung: „Schenke deinem Lieblingssong dein Herz!“. Gott sei Dank habe ich ja noch ein paar FĂĽnfjährige in petto, nicht unwichtig fĂĽr mein momentanes Seelenheil, und einer von den zweien meinte empört von hinten: „Ich verschenke doch nicht mein Herz, da gehe ich doch sofort tot!“ Es dauerte ein Weilchen, bis wir klären konnten, wie wörtlich so eine Aufforderung zu nehmen ist und seine Schwester eilte mir zur Hilfe: „Ich habe der Mama mein Herz geschenkt, weil ich sie lieb habe!“ Dankeschön! Schwups wurde in meine Seelenfarben ein Goldfaden eingewebt, der da bleiben wird, fĂĽr immer, den kann man nicht mehr ausmisten.
Verschenke dein Herz! Sei großzügig und freigiebig. Verschenke es an deine Kinder, an deinen Mann, deine Frau, an die, die anvertraut werden, an die, die es dringend brauchen! Zeug wandert auf den Speicher, auf den Sperrmüll oder verstaubt in den Regalen, die Zeit vergeht, sie hält nicht an, aber ein verschenktes Herz hinterlässt bleibende Spuren.
PS Auf der Suche nach Antworten hat mir Veronika das oben abgebildete Buch empfohlen. Und ich empfehle es schnell weiter, nur fĂĽr den Fall, dass du auch gerade auf der Suche bist. Absolute Leseempfehlung fĂĽr Eltern im Angesicht neuer Herausforderungen.
PPS Gemerkt?! Es tut sich was in diesem meinem Bloggemäuer. Und ich bin auch nicht mehr länger illegal, dank der nun vorhandenen Datenschutzerklärung! Und diesen Umstand verdanke ich einzig und allein der wunderbaren Antschana von mamaabba Vielen Dank, liebe Antschana, für deine Unterstützung und deinem Verständnis von Netzwerken!
Ach du Liebe, das ist so herzlich gern geschehen!!
Und danke sehr fĂĽr diese Worte heute, die mir nach einem sehr herausfordernden Abend mit meinem GroĂźen gestern so unglaublich gut tun. Ja, auch ich verschenke mein Herz und freue mich ĂĽber jeden einzelnen ‚Goldfaden, den man nicht mehr ausmisten kann‘.
Was ist das nur fĂĽr ein wunderbares Bild, Sandra!! Das werde ich hoffentlich nie wieder vergessen…