Jeden Abend rund um sechs, während unsere Zwillinge Qualitytime mit Feuerwehrmann Sam verbringen, steige ich unsere Treppe hoch ins Obergeschoss. Ich besuche mein groĂźes Mädchen in ihrem Zimmer und suche mir ein Plätzchen auf ihrem Bett. Immer wenn ich da sitze, denke ich, wie schön doch dieser Raum geworden ist, wie gemĂĽtlich und freundlich. Vor ein paar Wochen sah es hier noch ganz anders aus. Ein riesiges Hochbett stellte alles zu, tiefe Kommoden ragten zu weit in den Raum und ĂĽberall stand Krimskrams, der kein Zuhause fand. Im Dezember sprach das Mädchen aus, was wir schon länger ahnten. Sie fĂĽhlte sich nicht mehr wohl in diesem Raum und wĂĽnschte sich so sehr eine Ă„nderung. Ihr Problem war weniger der mangelnde Stauraum und die damit verbundene Unordnung (das hat mal wieder nur mich in den Wahnsinn getrieben) sondern der Umstand, dass wir ihr gar nicht mehr richtig „Gute Nacht“ sagen konnten. Verschwand sie am Abend hinter den undurchdringlichen Bretterwänden ihres Hochbettes, konnte man nur noch von unten hoch rufen. Wollte man sie am Morgen wecken, blieb nur das hoch brĂĽllen, wollte sie sich am Tag zurĂĽckziehen, half aus Platzmangel nur der Weg in diese Schlafhöhle unter der Zimmerdecke. Wir kamen nicht zueinander.
Zu unserer Verteidigung muss man allerdings sagen, dass diese Trutzburg von Bett gerade mal ein Jahr zuvor auf dringenden Wunsch desselben Mädchens angeschafft worden war und zwar trotz der erklärten Zweifel, die der Gatte vernĂĽnftigerweise damals schon hatte. Was solls. In den Weihnachtsferien hatten wir GlĂĽck und konnten das Bett und die Kommoden wieder verkaufen und das Ergebnis ist ein wunderschönes Zimmer zum WohlfĂĽhlen. Und ordentlich „Gute Nacht“ sagen.
Jeden Abend sitze ich nun auf diesem Bett, während mein Mädchen ihre Schulsachen fĂĽr den nächsten Tag packt. Das macht sie hĂĽbsch alleine, aber wir ĂĽberlegen zusammen, welche Fächer am nächsten Tag auf sie warten, welche Hausaufgaben dafĂĽr gemacht werden mussten, „Ach, fĂĽr NAWI brauche ich noch einen Milchkarton und ein StĂĽck schwarze Pappe“, was in der letzten Stunde gemacht wurde, ob irgendeine Fiesigkeit lauern könnte. Zwischendurch erfahre ich ein paar Anekdoten aus der Schule, manchmal auch etwas, was verärgert hat oder erstaunt. Ich höre von lustigen Freundinnen und seltsamen Gestalten. Es sind vielleicht fĂĽnfzehn Minuten, die wir da jeden Abend zusammen verbringen, nur wir beide, ganz allein. Aber wenn ich das Zimmer wieder verlasse, haben wir uns gegenseitig ein bisschen Wärme, Sicherheit und Liebe geschenkt. Dann gehe ich eine TĂĽr weiter, wo der nächste wartet, der gesehen, gehört und gesprochen werden will, den ich sehen, hören und sprechen will.
Unsere beiden Großen werden tatsächlich langsam groß, vieles verändert sich, innen und außen, eine Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit. Vieles, was schon selbstverständlich klappte, klappt nun nicht mehr, das Hirn hat offensichtlich andere Aufgaben, als sich mit lästigen Alltäglichkeiten zu beschäftigen, so manches Hormon feiert fröhliche Urstände, manche Laune schüttelt uns durch. Ist es wirklich schon so lange her, dass ich sie bei ihren ersten Schritten begleitet habe? Nun sind es neue Schritte, die mitgegangen werden wollen.
Und während wir uns gemeinsam in diese neue Zeit vorwärtstasten, höre und sehe ich MĂĽtter und Väter von Klassenkameraden und MitschĂĽlern, bei Elternabenden und vor KlassenzimmertĂĽren, beim Abholen und am Telefon. Und immer wieder höre ich dabei ähnliche Sätze. „Aus der Nummer sind wir raus. Das muss er jetzt alleine können. Da kĂĽmmere ich mich nicht mehr drum, die sind jetzt alt genug. Fällt er halt mal auf die Schnauze, sonst lernt er es nicht. “ Und natĂĽrlich sagen längst nicht alle Eltern solche Sätze, aber immerhin so viele, dass es mich ernsthaft beschäftigt. Ich habe einen eisernen Grundsatz. Ich kommentiere niemals Erziehung, Familien und Eheleben anderer Menschen. Weil man nie die ganze Geschichte kennt, weil jede Familie ihren eigenen Weg finden muss, weil, das, was fĂĽr die einen funktioniert, fĂĽr die anderen ĂĽberhaupt nicht gangbar wäre. Aber ich selbst darf und muss mich anhand solcher Sätze ausrichten und meine ureigene Position finden.
Ich weiĂź nicht, wie es geht, wie Pubertät läuft, was die Antwort auf alle Fragen ist. Wir setzen vorsichtig die nächsten Schritte. Was ist Zuviel, was ist Zuwenig? Wo hört Helikoptern auf und wo fängt Vernachlässigung an? Das kann heute ein ganz anderer Punkt sein, als morgen. Aber, wenn ich mir vorstelle, dass der Gott zu dem ich bete, der den ich Vater nenne, dass er in Phasen meiner größten Unsicherheit, meiner größten Verwundbarkeit und Verwirrtheit sagen wĂĽrde: „Da muss sie jetzt alleine durch, ist ja alt genug jetzt, zur Not lernt sie es halt auf die harte Tour…!“ Der Gedanke allein wäre grauenhaft.
Und deshalb werde ich da sein, werde ich aus dieser Nummern nie raus sein, werde ich immer hinhören und hinschauen. Weil ich fest daran glaube, dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern als never ending lovestory gedacht ist, genau wie die, zwischen Gott und den Menschen. Ich kann nicht vor Kummer bewahren und auch nicht vor schmerzhaften Veränderungen, ich kann Niederlagen nicht abwehren und Fehltritte nicht verhindern. Das ist ja nicht meine Aufgabe. Aber ich kann da sein. Mitgehen. Mitfühlen.
Und so steige ich jeden Abend gegen halb neun wieder die Treppen hinauf, setze mich an Bettkanten und streichele ein wenig ĂĽber Kinderhaar, höre mir an, was es noch zu sagen gibt und wĂĽnsche ordentlich „Gute Nacht!“
Liebe Sandra, danke fĂĽr diesen wunderbaren Text. Den möchte ich mir fĂĽr die kommenden Monate und Jahre ins Herz prägen lassen. Ich glaube auch, dass (angehende) Teenager nicht zuviel Liebe, Zuwendung, Ermutigung und UnterstĂĽtzung erhalten können. – Wie schön, zu eurer Familie gehören zu dĂĽrfen! <3
Danke fĂĽr deine tollen Gedanken Sandra! Total super, dass ihr das Bett wieder ausgetauscht hat, man hätte das ja auch stur durchziehen können. Find ich super, dass ihr so auf die Kids eingeht. Un dein Gedanke zu: Da mĂĽssen sie jetzt allein durch….richtig gut! Danke dir!
Was fĂĽr ein wohltuender Text. Toll, dass ihr eure Kinder gerade in dieser schwierigen Zeit so im Blick habt&fĂĽr sie (da) seid!
Ich glaube, dass sich unsere Eltern-Kind-Beziehungen verändern müssen. Aber was ist es für ein Schatz als Kind/Teenager/Erwachsener um die grenzenlose Liebe, Unterstützung und Ernstnahme der Eltern zu wissen!
Danke fĂĽr diesen ehrlichen, liebevollen Blick.
Danke!
Ich muss jetzt mal ehrlich sein: ich las den Titel und dachte mir: ach nee, das willst nicht lesen. Und dann las ich doch und fand den schönen Text.
Mich begleiten diese Aussagen auch immer wieder. Wenn uns jetzt zu Caspar, Kind Nummer 9 gratuliert wird, heißt es immer, ach die Grossen sind doch schon selbstständig und kommen alleine durchs Leben. Dann schaudert es mich immer, denn so ist es nicht. Sie brauchen uns immer noch. Anders, klar, aber immer noch sehr. Selbst der fast 19 jährige zählt fest auf uns und das kann und darf er auch.
Sie dürfen mal auf die Nase fallen, natürlich, aber sie müssen nicht alleine wieder aufstehen und ich versuche den Wink zu geben, das der Fall nicht passiert. Ihre Entscheidung ist es dann natürlich und es geht oft genug schief. Aber oft genug waren wir früh genug im Gespräch.
Alles Liebe !
Die GroĂźfamilienmama
Danke fĂĽr die Ermutigung! Sehe ich genau so! Die Kinder brauchen uns, aber halt anders als ein Kleinkind!
Mir wird auch immer wieder gesagt, „ach ab der 4. Klasse brauchen die Kinder ihre Mutti nicht mehr……!“
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