Vor ein paar Tagen hatte ich einen klitzekleinen Flashback. Für einen Moment war ich wieder knapp dreizehn Jahre alt, ein pummliges, pickliges kleines Mädchen mit Haaren bis zum Hintern und einer dicken Brille auf der Nase. Ich wechselte von der Orientierungsstufe und einer Klasse, in der ich mich wohl und aufgehoben gefühlt hatte, in die siebte Klasse des Gymnasiums und erwachte in einem schulischen Alptraum. Man hatte eine eingeschworene Klassengemeinschaft, die aus einem anderen Städtchen kam, zusammen wechseln lassen und nur mit drei weiteren Kindern aufgefüllt. Eines davon war ich und ich stand plötzlich vor einer Wand aus Ablehnung. Die 27 anderen Kinder wollten uns nicht nur nicht haben, sie hatten auch ihre helle Freude daran, uns das ständig wissen zu lassen. Sie spotteten und lästerten, sie grenzten aus und beschimpften. Es brauchte über ein Jahr und die Schrumpfung der Klasse um ein gutes Drittel, damit Platz in der neuen Gemeinschaft war. Ein Jahr ist ganz schön lang, für die, bedingt durch Pubertätsumbau, eh schon ramponierte Teenie -Seele, unglücklich und verunsichert.
Dank Sonja war ich letzte Woche wieder fiese dreizehn. FĂĽr einen kurzen, gruseligen Moment. Im nächsten Moment war ich wieder Mutter und zwar eine der wildesten Sorte. Sonja schreibt von den Schwierigkeiten, die ihr groĂźer Junge in der Schule mit seinen Klassenkameraden hat und wie grässlich schwierig es ist, die Seelennot des eigenen Kindes auszuhalten und mitzuerleben. Die Löwenmutter in ihr möchte zum Angriff ĂĽber gehen. Die „domestizierte“ Mutter dagegen (dieses Wort! Dieses Wort! Ich weiĂź immer noch nicht, ob ich darĂĽber lachen oder weinen soll…es trifft so haargenau ins Schwarze!), die „domestizierte“ Mutter dagegen erträgt, steht bei und weiĂź, dass man seinem Kind nun mal nicht das Leben und seine Fiesigkeiten abnehmen kann. Das Leben musst du hĂĽbsch selber leben, egal, ob du 3, 13 oder 93 bist, in seiner ganzen Bandbreite, aufregend und furchteinflößend, wunderschön und grausam, voller Freundschaft und voller Ungerechtigkeit, voll Liebe und voll Schmerz.
Wie oft habe ich in den letzten zwölf Jahren vor genau dieser Herausforderung gestanden, wie oft hat die Löwin in mir gebrüllt und getobt und nicht selten ist sie ausgebrochen und zum Angriff übergegangen, war sie nicht zu bändigen, blind ihren Instinkten folgend, das zu schützen, was ihr anvertraut, was ihr doch das Liebste ist. Nicht immer, war das die beste Idee, nicht immer vernünftig, nicht immer reflektiert und durchdacht. Wenn du fünf Kinder hast, dann stapeln sich die Ungerechtigkeiten, und kleinen Dramen nur so, sie bleiben nicht aus, können sie gar nicht, weil sie nun mal zum Leben gehören, so fern du unter den Menschen lebst und nicht als Einsiedler irgendwo im Wald.
Ich erinnere mich an die Schulärztin, die bei der Eingangsuntersuchung kopfschĂĽttelnd und laut sagte: „Was sollen wir denn mit so einem Kind, wie dir nur machen, jetzt gehst du raus, damit ich mit der Mama mal ĂĽber dich reden kann.“ An den Augenarzt, der sagte: „Der hat keine BindehautentzĂĽndung, der ist nur faul. Und nicht besonders helle, oder?“. An abgerissene Kapuzen und aus dem Fenster geworfene Fahrradhelme, an die Augenverletzung, durch einen gut gezielten Stockhieb, an unmögliche Schulsituationen, vorschnelle Verurteilungen, Bewertungen und merkwĂĽrdige Konflikte. Hunderte und hunderte solcher Situationen fallen mir ein. Und jedes Mal brĂĽllte die Löwenmutter in mir, wollte sie verteidigen und abwehren, losspringen und angreifen. Nicht immer hat es die domestizierte Mutter einfach, das wilde Raubtier, ihren so eng vertrauten Seelenmitbewohner, zu besänftigen und mit Ruhe und Bedacht abzuwarten, auszuhalten und so zu reagieren, wie es sich fĂĽr ordentliche, zivilisierte Menschen gehört. Und nicht immer gelingt es ihr, mit den Jahren immer besser, aber eben nicht immer. Und dann schämt sich die ordentliche, ĂĽberlegte Mutter zutiefst, dann ist es ihr unangenehm und peinlich, „so etwas macht man nicht, ich weiĂź, ich habe, ähem, wohl etwas ĂĽber reagiert, mich vielleicht ein klitzekleines bisschen hineingesteigert, nichts läge mir ferner, als zu helikoptern, es ist nur die Löwenmutter in mir…“
Aber weißt du was? Wohl jedem Kind, das eine Löwenmutter oder einen Löwenvater sein eigen nennen darf! Wohl jedem schüchternen kleinen Jungen, jeder einsamen dreizehnjährigen Seele, jedem Kinderherz in Not! Natürlich sollte man nicht tollwütig auf jeden und alles losspringen, natürlich muss es reflektiert und gesittet zugehen, aber! Ich bin mir sicher, jedes kleine Menschlein spürt, wenn die Löwen los sind, und sei es nur in den Tiefen der elterlichen Seelen, weil die domestizierte Mutter, die Leine stramm hält. Es weiß, fühlt, merkt, das es nicht alleine auf der Welt ist, dass jemand bedingungslos zu ihm hält, dass es gewollt und geliebt ist, dass es nicht egal ist, ob es ihm wohl ergeht, dass es in Sicherheit ist. Und das ist doch in jedem Kinder und Teenie-Leben das Wichtigste und Unersetzlichste?! Also schäme dich nicht, liebe Löwin, du darfst ruhig brüllen, wenn es nötig ist. Gott selbst hat diese Urinstinkte in dich hinein gelegt, zu schützen, was dir anvertraut, was dir am Liebsten ist. So hält er es doch auch.
Ganz recht, ich war auch eine Mutter und erinnere mich genau an solche Situationen. Das Herz blutete mir. Jetzt ist mein Sohn vierzig Jahre alt. Das Loslassen und ihn in die Welt schicken geht schon. Mir kam der Satz unter, der sehr wesentlich für mich ist: Das Leben meint es gut mit Dir, vertraue. Alles Liebe! Die Gärtnerin mit dem gruenen Daumen
Ach, Sandra!!! Auf ein neues, von Herzen ĂĽberzeugtes und lautes ROARRRR!!! Danke. <3