Neulich traf ich mich zum Frühstücken mit einer wunderbaren Frau, die langsam aber sicher von einer netten Bekannten zu einer echten Freundin wird. Wir saßen nett beieinander, bei Rührei, Lachs und Milchkaffee, hüpften von einem Thema zum anderen, lasen ein wenig in unseren Gesichtern und irgendwann fasste ich mir ein Herz und fragte: „Was ist deine Geschichte?“ Sie ließ die Gabel sinken und schaute kurz erstaunt:“ Kennst du noch nicht?“ „Nee, kenne ich noch nicht.“ Und dann erzählte sie. Als sie fertig war, kannte ich nicht nur ihre Geschichte, ich dachte auch: „Liebes Leben, was kannst du so garstig sein, so hart und unbarmherzig, wo du doch eigentlich so schön bist, charmant und voller heller Liebe!“
Irgendwann verabschiedete ich mich von ihr, nahm die Geschichte ihres Lebens mit nach Hause in mein eigenes, mit einem Bauch voller Rührei und einem Herzen voller Dankbarkeit. Dankbar, dass sie mir jetzt noch ein wenig mehr Freundin geworden war, dankbar, dass ich um eine Geschichte reicher bin, dankbar für das Vertrauen und die Ehrlichkeit. Und seither denke ich immer wieder, dass wir einander unsere Geschichten erzählen müssen. Nicht in geschönten Instabildern und blankpolierten Facebookposts. Nein, in nackten, ehrlichen Worten. Die dramatischen und die unscheinbaren, die alltäglichen, banalen und die großen, die uns sprachlos machen. Die Geschichten, bei denen du über dich selber lachst, die, die uns verstummen lassen, die tragischen, unglücklichen, die heiteren, kleinen, leisen. Geschichten von Einsamkeit, Kummer und Schmerz, vom kleinen und vom großen Glück, von Vergebung und Schuld, vom Versagen und Gelingen, von Zweifeln und Zuversicht. Es sind diese Geschichten, die unsere Gesichter und Leben zu dem machen, was sie sind, die die Linien zeichnen auf der Landkarte unseres Herzens. Wir sollten uns an dieses Herz fassen und ehrlich, ungeschönt und ohne Filter unsere Geschichten erzählen. Und wir sollten einander zuhören. Mit offenen Ohren, noch weiteren Herzen und stummen Mündern.
Wenn du die Geschichten hörst, die das Leben erzählt, dann ist es fast unmöglich, einen Menschen einfach zu verurteilen. Ich kenne tatsächlich keinen, zumindest nicht in meiner Altersklasse, der nicht die ganze Fülle des Lebens zu spüren bekommen hätte. Zur Fülle gehören Licht und Schatten, Heil und Schmerz, weiter Himmel und nackte, schmutzige Erde. Wenn du die Geschichte eines Menschen kennst, dann verstehst du ihn vielleicht noch lange nicht, aber du begreifst, warum…Du siehst immer mehr ein, dass es kein schwarz und kein weiß gibt, dass da tausende Farben und Töne dazwischen sind, tausende gute Gründe, warum einer ist, wie er ist. Je mehr es mir gelingt, die Menschen mit ihrer Geschichte zu sehen, desto mehr gelingt es mir, barmherzig zu sein. Und auf Barmherzigkeit zu hoffen.
Wenn du die Geschichten hörst, die das Leben erzählt, dann merkst du, du bist nicht allein. Wenn dir das Leben wieder seine raue, garstige Seite zeigt, wenn der Sturmwind kalt um deine Ohren pfeift und Kummer und Sorge dein Herz durchschütteln, dann lernst du immer mehr, dass es so nun mal ist, das Leben. Stürme kommen und gehen, kein Mensch bleibt davor bewahrt, du segelst nicht alleine, nur weil es für den Moment so aussieht, du kannst beten voll Hoffnung und Vertrauen, das Selbstmitleid über Bord werfen, nein du bist nicht einzig in deiner Not. Aber wenn der Wind sich legt, und neues Land in Sicht ist, wenn du dir das salzverkrustete Haar aus dem Gesicht wischst, dein Herz leise danke sagt und du deine Füße auf sicheren Grund setzt, dann vergiss nicht, auch diese Geschichten zu erzählen. Wir brauchen Geschichten von Hoffnung und Freude, voll Lachen und Wärme und dem Leuchten des Himmels.
Wenn du die Geschichten hörst, die das Leben erzählt, dann weißt du, wieviel Mut es kostet und wie hoch der Einsatz ist, für den der sie erzählt. Er setzt sein Vertrauen in dich, in die Welt und verändert dadurch auch unser aller Gesicht. Kennst du Regina von beschenkt.com? Mir stockt der Atem, wenn sie und ihre Familie die Geschichte ihres kleinen Jungen Samuel erzählen. Eine Geschichte vom Tod und doch eine Geschichte der Auferstehung, die vielen Eltern in ähnlicher Lage Trost schenkt und Heilung und dadurch zum kostbaren Schatz wird. Oder Antschana und ihr Mann Andi, die vom Scheitern und der Rettung ihrer Ehe erzählen, um anderen Ehepaaren Mut zu machen. Sternenkinder und gescheiterte Ehen, Krankheiten und Streit, scharfe Lebenskurven und komplizierte Herzen. Es gibt so viele Geschichten, wie es Menschen gibt und je gab, wir alle sind ein Kapitel in Gottes großem Lebensbuch, aber wir dürfen die Querverweise gerne lesen.
Vielleicht denkst du jetzt, dass die Geschichten deines Lebens dich verletzlich machen, angreifbar und dich dem Hohn der Spötter aussetzen. Vielleicht ist es tatsächlich so. Aber es gibt eben auch die anderen. Nicht jeder ist dazu gerufen seine Geschichten in die weite Welt hinauszurufen. Doch bei einem Frühstück mit einer netten Bekannten, die auf dem besten Wege ist, eine Freundin zu werden, den Teller voll Rührei und in der Tasse Milchkaffee, da darfst du schon mutig sein. Die Geschichten deines Lebens sind Geschenke, die die Welt reicher, weiser und klüger machen.
So berührend wie du darüber schreibst, liebe Sandra!
Ich wünschte auch, wir würden uns gegenseitig unsre Geschichten erzählen! Ehrlich gesagt, ist es genau das, was ich persönlich am allerliebsten anhöre. Herzensthemen – das ehrliche Leben… Vll mach ich der nächsten Freundin, die zu Besuch kommt, einfach Rührei und Milchkaffee und lass mir von ihr erzählen. 😉 Deine Worte machen so Lust und Mut, das auszuprobieren, so als ob das Herz ein paar kleine, mutige Flügel bekommt… Das ist wirklich deine Gabe! Durch deine Worte wachsen Herzensflügel… jedenfalls bei mir. <3
So was Schönes. Herzlichen Dank dafür! Und alles alles Liebe wünscht Dir die Gärtnerin mit dem gruenen Daumen.
Ganz berührt und gerührt sitze ich da… finde nicht die Worte… wie schön du das ausgedrückt hast… Und die Geschichten von Menschen ziehen an mir vorbei, auch meine eigene und ich denke an all die Geschichten, die ich noch hören möchte… Danke! Und herzliche Grüsse gegen Norden, auch unbekannterweise…
Sula