Krücken

Endlich! ENDLICH! Endlich darf ich wieder hier sitzen, rechts von mir der Kaffee, vor mir der Tippomat, draußen winterblauer Himmel und Sonnenschein. Gut, irgendwo liegt da noch ein Kind herum, aber nur aufgrund einer Schulübernachtung. Es ist so übernächtigt müde, dass es nicht weiter behelligt werden möchte.

Es war in den letzten Wochen ein wenig still hier, aber du kannst mir glauben, nur hier. Hier im Hause waren Winterferien. Winterferien beinhaltet für die nicht skifahrende und nicht winterurlaubende Familie viele gemeinsame Stunden daheim. Vor allem, wenn es draußen in Strömen regnet und eisig windet. Der einzige, der das Haus zuverlässig verließ, war der Gatte. Der hatte nämlich keine Ferien. Also, nur um das klar zu stellen. Ich liebe meine Kinder über alles und finde sie auch ziemlich uneingeschränkt großartig. Keines hat sich daneben benommen oder irgendwelchen gravierenden Unsinn angestellt. Aber sechs Menschen, von denen mindestens fünf einen enormen Bewegungs- und Mitteilungsdrang haben, rund um die Uhr in einem Haus, sind ein wenig viel für mein emotionales Gleichgewicht. Und weil wir keine ganz kleinen Kinder mehr haben, fing das Unterhaltungsprogramm morgens um halb sieben an und lief dann bis 22 Uhr. Während in unserem Wohnzimmer wilde Rollbrettrennen gefahren und Indoor-Fußballspiele ausgefochten wurden, gab ich mir ungewöhnlich häufig ungewöhnlich viel Mühe beim Sortieren der Wäsche. Im Wäschekeller. Der ist unten und ganz weit hinten. Dort saß ich dann und maulte über den Sinn und Unsinn von Ferien im trüben Rheinhessenwinter. Und trauerte ein bisschen um die nun viel zu kurzen Osterferien, die Ferien also, die im warmen Frühling liegen, wenn eh alle freiwillig draußen sein wollen.  All zu viel Zeit zum Motzen blieb nicht, denn eine kindliche Spürnase findet dich immer. Weil sie Hunger hat, oder Streit oder ein Rollbrett über ihre Finger gefahren ist.

Es waren also tatsächlich sehr herausfordernde Tage für mich, denn ich funktioniere nur dann einwandfrei, wenn ich zwei oder drei Stündchen am Tag in Ruhe still sein darf. Dann arbeite ich vor mich hin, schreibe Artikel, erledige, was zu erledigen ist und höre nur den Stimmen in meinem Kopf zu. Die haben auch immer furchtbar viel zu sagen und wenn sie nicht zu Wort kommen, dann brüllen sie immer lauter. Oder quatschen mir nachts die Ohren voll, sehr unpassend, wirklich. Gegen Ende der Ferien schlossen sich noch die lauten, bunten Fastnachtstage an und nun brauche ich dringend eine Pause.

Und so saß ich am Morgen des Aschermittwochs mit meinen großen Kindern im kalten Mainzer Dom und fühlte fast mit Erleichterung die Kühle der Asche auf meiner Stirn. Die Asche als äußeres Zeichen für den Beginn der Fastenzeit. Mein Verhältnis zur Fastenzeit ist ein wenig wechselhaft. Ich habe schon alles mögliche gefastet, die Klassiker oder fernsehen oder Medienkonsum, ich habe es manchmal durchgehalten und oft genug auch nicht. Ich hatte Jahre, in denen ich überhaupt keine Lust hatte und befand, dass diverse Schwangerschaften schon ausreichend Verzicht auf Schlaf und Alkohol beinhalteten. Und es gibt Jahre wie dieses eines ist. Dann heiße ich die Fastenzeit willkommen, weil ich spüre, wie sehr ich sie brauche.

Aller Wahrscheinlichkeit kenne ich dich nicht. Ich weiß nicht, ob du ein gläubiger Mensch bist, vielleicht sogar richtig ordentlich mit Kirchgang und Gemeinde. Vielleicht glaubst du gar nicht, weil du die Notwendigkeit nicht siehst. Vielleicht bist du aber auch ein Mensch mittleren Glaubens. Du glaubst, du hoffst, du sehnst und du zweifelst, du stolperst, verlierst ihn manchmal aus dem Blick, deinen Glauben, in all dem Alltagsgewusel. Vielleicht bist du eine Mischung aus allem. Ich bin ein gläubiger Mensch und stolpere und falle trotzdem durch mein Leben. Und weil die ganze Stolperei doch sehr mühselig ist, greife ich zu Krücken, die mir das Durchkommen durch die übervollen lauten Tage erleichtern sollen. Bei der Auswahl meiner Krücken bin ich leider wenig phantasiebegabt, es sind die üblichen Verdächtigen, die schnellen Trost versprechen, Linderung oder Belohnung, je nachdem, was gerade dringend gebraucht wird. Krücken können von Zeit zu Zeit hilfreich sein, aber sie sind keine Lösung, kein Ziel, keine heilsame Aussicht und ganz bestimmt machen sie deine Seele nicht satt.

In dieser Fastenzeit will ich wieder lernen, ohne Krücken zu gehen. Ohne den Lärm der sozialen Medien, die die Stimme in meinem Herz übertönen. Ohne den Zucker, ohne Wein, die die echten Gefühle zur Seite drängen. Der Aschermittwoch ruft uns zu: Kehr um und verlasse dich auf den, der dich wirklich trägt und der dich erträgt, mit all deinen Zweifeln, mit all deinem Gestolpere, mit deinem Scheitern und deiner Überforderung. Deswegen feiern wir doch Ostern. Weil wir geliebt und getragen sind bis in die Ewigkeit hinein, so, wie wir sind. Schmeiß die Krücken weg, gleichgültig welchen Namen deine tragen!

Noch gehe ich ein wenig wackelig, so ganz ohne Krücken. Und bin noch etwas ungnädig mit mir selbst, denn ich lerne ja nicht zum ersten Mal, ohne Krücken zu gehen. Es ist eine Lektion, die ich in diesem Leben wohl immer und immer wieder lernen muss und das nehme ich mir ein wenig übel. Das Leben legt im Übrigen auch keine Pause ein, nur weil Menschen versuchen ohne Krücken zu gehen. Wenn der Lärm zu groß wird, das Tempo zu schnell, der Waschkeller zu weit weg ist, dann strecke ich die Hand aus und suche die Stütze, die mich wirklich trägt, die nichts schreckt und die immer wieder gnädig ist.

 

 

 

 

2 Kommentare zu „Krücken“

  1. Danke für die Ermutigung, die Krücken wegzuwerfen (auch wenn ich das mit meinen medizinischen grad nicht tun kann). Es geht mir genau wie dir mit der Fastenzeit. Und genau wie du denke ich dieses Jahr: Ja, ich brauche sie. Es tut so gut, bei dir meine unausgereiften Gedanken so wohlformuliert anzutreffen. Das habe ich jetzt gerade gebraucht. <3

  2. Pingback: Eine Fastenzeit der besonderen Art | Fünf Geschwister aus Sansibar

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