Ich kann das Wörtchen „achtsam“ nicht leiden. Da kann das arme, kleine Wort ĂĽberhaupt nichts dafĂĽr, aber es ist ihm wie allen Worten ergangen, die ein freundliches und sinnvolles Dasein fĂĽhrten, bis sie völlig unerwartet in grelles Scheinwerferlicht gezogen wurden und naja, man weiĂź ja, was der schnelle Ruhm mit einem macht. Erst bejubelt, immer häufiger und häufiger benutzt, gedruckt, handgelettert und geschrieben und schwups ist es aus mit der schnellen Kariere. Irgendwie schal und abgenudelt, man mag nur noch mĂĽde lächelnd abwinken. „Achtsam“, hmm jaaja, das ist aus der Geschenkebuchabteilung oder? Mit weiĂźem Kreidestift auf schwarze Tafeln gepinselt oder war es eine Postkarte, auf der ich es gerade neulich traf? Dem Wörtchen „achtsam“ ergeht es wie dem Wok-GemĂĽse, den Eulen und den gebeutelten Flamingos, zu viel ist zu viel und damit quasi vergessen.
Trotzdem fiel das Wörtchen mir dieser Tage wieder vor die FĂĽĂźe, ich hob es auf, pustete ein wenig den Staub und die Spinnenweben weg und verwende es heute, ganz achtsam natĂĽrlich. Ich konnte gar nicht daran vorbeigehen, weil wir hier langsam aber sicher, trotz und bei aller Struktur, unsere ganz persönlichen Grenzerfahrungen machen. Der Aktionismus, die Bastel- und Gestaltungswut ist verpufft, was bleibt ist ein Tasten durch wĂĽste Zeiten. Plötzlich waren da Hausaufgaben, die sich „Regressionsanalyse auf dem Taschenrechner“ nennen. Die dringende Aufforderung, seine Kinder zum Vokabeltraining „anzuhalten“. Am anderen Ende der Lernplattform verlor eine Lehrkraft die Contenance und bezeichnete ihre SchĂĽler und SchĂĽlerinnen in einem Chat als faul, undiszipliniert und verantwortungslos. Es hatte zwei kleinere Missverständnisse gegeben. Es könnte sein, dass daraufhin ich ein wenig die Contenance verlor, kurz bevor ich dann ĂĽber das abgenutzte Wörtchen „achtsam“ stolperte. Wir mĂĽssen achtsam sein, mit unseren Worten, den geschriebenen und den gesprochenen, mehr, denn je. Wir alle sind dĂĽnnhäutig, wir alle gehen mit unsicheren Schritten, wir brauchen Achtsamkeit.
Am letzten Freitag schluckte ich deswegen empört, aber tapfer, alle düsteren Verwünschungen hinunter. Ich tröstete das Kind, das, wie wahrscheinlich die meisten Kinder, sein Allerbestes gibt. Ich dachte an Lehrer, die auch ihr Allerbestes geben und an Kinder, ohne Hilfe, allein Daheim. Wir müssen achtsam sein. Das habe ich auch einem Mädchen gesagt, dass die Herstellung von Karamell dokumentieren musste.
Im April kannst du hervorragend in den Wald fahren. Wir haben es getestet, um das persönliche Grenzgebiet ein wenig zu verlassen. Der Wald, auch so ein Klischee, hat genau das getan, was wir von ihm erhofft hatten und er wird es auch für dich tun. Er hat uns achtsam werden lassen, ohne großen Krampf, ganz automatisch. Wir liefen und liefen und entdeckten winzige blaue Blumen, frisches, grünes Moos, tanzende Zitronenfalter und dicke Käfer bei ihrer schweren Arbeit. Für eine kleine Ewigkeit von drei Stunden dachte keiner mehr an Viren, doofe Schulaufgaben, an Begrenzung und schlaflose Nächte, es war herrlich. Vielleicht musst du ein wenig fahren um menschenleeren Wald zu finden, meide die üblichen Flecken. Es lohnt!! Und vergiss nicht, ein Butterbrot einzupacken. Nie schmeckt es leckerer, als auf einem Baumstumpf unter freiem Himmel.
Seit April läuft die Netflix-Serie „Unorthodox“ und sie soll groĂźartig sein. Bevor ich sie mir aber ansehe, lese ich das Buch, weil es autobiographisch ist. Ich möchte die Stimme und die Erzählfarbe der Autorin in meinem Kopf hören, ihre echte Version. Schon nach den ersten dreiĂźig Seiten hat es mich in seinen Bann gezogen, in eine Welt, die mir so fremd ist und von der ich gar nicht glauben kann, dass es sie so immer noch gibt. Es ist ein LehrstĂĽck, auch in Achtsamkeit. Wann ist Religion die Feier der Gegenwart Gottes, und wann knechtet sie den Menschen und wird zur Sekte? Spannend und aufwĂĽhlend.
In diesen Apriltagen feiern wir die Rückkehr des Briefes. Und ich freue mich so sehr darüber. Das Beste daran ist, dass ich nicht damit angefangen habe. Plötzlich lagen die ersten Briefe im Kasten. Echte Briefe, keine Rechnungen oder Werbesendungen. Von freundlichen Lehrerinnen, dem Kindergarten, von Schulfreunden und der bayrischen Cousine. Plötzlich werden hier jeden Nachmittag Briefe geschrieben, ganz freiwillig und mit heiligem Ernst, als wären wir Protagonisten eines Jane Austen Romans. Briefe sind altmodisch und persönlich, sie sind einzigartig (nicht nur hinsichtlich ihrer Orthographie) und herzwärmend. Briefe brauchen viel Achtsamkeit. Beim Lesen. Und beim Schreiben.
Nie hatten wir Ostern so nötig, wie in diesem April. Nie wird Ostern so ganz anders sein, als in diesem April. Wir müssen uns einen neuen Weg suchen, um durch diese besonderen Tage zu gehen, vielleicht macht uns die Suche nach diesem Weg aber auch besonders achtsam, für die eigentliche Botschaft. So sehr ich das Altvertraute liebe und zur Zeit auch schmerzlich vermisse, so ist es doch auch bequem, oft gehört, oft gelebt. Jetzt dürfen wir mit einer ganz neuen Aufmerksamkeit an dieses Fest herangehen, selbst ganz neu entscheiden, was uns wichtig ist. Wir für unseren Teil können uns mit Internetgottesdiensten nicht anfreunden, auch wenn es bestimmt Großartige gibt. Also feiern wir ganz reduziert. Ein Ostergarten auf dem Tablet. Kleine Osterkerzen. Familienandacht am Lagerfeuer. Die alten Heilsworte von Kindern gelesen, Sonnenaufgang am Ostermorgen in den Weinbergen. Vielleicht ist es ein Segen. Vielleicht kommt endlich Gott zu Wort, wo sonst Menschen zu viel plappern.
Manche Sachen bleiben gleich, auch in diesem April. Es könnte sein, dass ich auch in diesem Jahr das Eierdepot des Osterhasen schon entdeckt habe. Möglicherweise habe ich schon mal ein oder zwei gekostet. Sicherheitshalber. Käsekuchen bleibt gleich. Und Eierfärben auch. Und blĂĽhende Kirschbäume und die Geschichte von „Pontus“, dem kleinen Lamm. Ich wĂĽnsche dir gesegnete Ostertage. Bleib achtsam, bleib behĂĽtet und bleib auch bitte gesund.
Das ist soooooo schön geschrieben… wunderschön.
Das mit dem Wort „achtsam“, das gefiel mir richtig gut.
War schön, zu lesen, danke.
Danke fĂĽr die guten Gedanken. Die Anregung fĂĽr die Feiern gefallen mir gut, ich werde sie fĂĽr mich aufgreifen. Gesegnete Kartage!
huhu sandra,
ich wollte nur kurz nachhören, ob die post dir etwas von mir gebracht hat?
herzlichst
annette
Liebe Anette, so jetzt aber! Herzlichen Dank fĂĽr dieses wunderbare kleine Päckchen! Ich habe mich so sehr gefreut und finde es unglaublich, dass jemand so an mich denkt! Danke! Sei lieb gegrĂĽĂźt und habe ein schönes Wochenende, mit ganz viel Platz fĂĽr Achtsamkeit…