Jetzt im Juni

Dieser Tage stand ich früh am Morgen unausgeschlafen und unausgegoren in der Küche herum, nichts weiter tuend, als dem Kaffee beim Reinblubbern in die Kanne zuzusehen, als mein großer Junge, ebenfalls noch ziemlich verschlafen, die Küche betrat. Und weil er ein freundlicher Junge ist und Mitleid mit seiner  kaffeesehnsüchtigen Mutter hatte, durfte ich ihn mal richtig drücken. Schlagartig war ich wach. Irgendjemand musste in der Nacht gekommen sein und an ihm gezogen haben. Anders ließ sich die plötzlich Erkenntnis nicht erklären- das Kind war größer als ich. Wann? Wann bitte ist das passiert? Die Erkenntnis offenbarte mein ganzes Dilemma dieser Wochen. Während das große C unser Leben erst auf den Kopf stellte, es dann ordentlich durchschüttelte, um es schließlich in seinen herrschsüchtigen Klauen festzuhalten, war die Zeit einfach weitergegangen. Kinder wuchsen weiter, und Haare und Bäuche. Aus Kindergartenkinder werden Schulkinder, aus Viertklässlern Sextaner, aus kleinen Buben große Kerle. Hatten wir zu Beginn noch Schneeglöckchen und Narzissen gesucht, stehen jetzt die Rosen in vollster, herrlichster Blüte. Es ist Sommer geworden. Juni. Die Zeit schert sich einen feuchten Kehricht um Pandemien, sie spaziert munter weiter und lässt hier und da Mütter mit seufzenden Herzen zurück.

Eigentlich müssten wir in diesem Monat Abschied nehmen, Abschied feiern, Abschied zelebrieren. Von der Grundschule, vom Kindergarten (12 Jahre bin ich jeden Tag in diesen Kindergarten gefahren, 12Jahre!), von Kindertagen, die plötzlich Jugendtage werden. Und wie immer machen mich solche Umbruchzeiten ein bisschen wehmütig, ein bisschen traurig, ein bisschen schwerherzig. Auch Mütterherzen müssen all das Wachsen, all das Verändern und Loslassen erst auf die Reihe bekommen. Und sind wir ehrlich, die Zukunft ist jetzt nicht so wahnsinnig genau berechenbar. Das ist Zukunft ja eh nie, aber zur Zeit kann man kaum drei Wochen weit schauen. Der kleine Kontrollfreak in mir möchte dringend aus der Panikbällchenbad abgeholt werden.

Es könnte sein, dass mich die letzten Monate ein wenig dünnhäutig haben werden lassen. Letzten Donnerstag habe ich einen Unfall mit ordentlichem Schaden verursacht. Ich würde die Schuld gerne den sintflutartigen Regenfällen geben, aber die Wahrheit ist wohl, dass ich es eilig hatte, mit dem Kopf schon drei Stunden weiter war, was mich den armen, Gott sei Dank geparkten Jaguar glatt übersehen ließ. Gestern wurde das neue Rad unseres Sohnes gestohlen, sein ganzer Stolz, er hatte so gut darauf geachtet. Auch Dinge haben selten Bleibegarantie. Und nun?

Alles was bleibt ist das jetzt. Das hier und heute. Diese Stunde, dieser Tag , dieser Monat. Wenn der Paniktiger Tango tanzt, wenn dir Zeit und Menschen und Dinge und dein ganzer Terminkalender ein wenig durch die Finger zu gleiten drohen, dann ist das jetzt, das einzige, was zählt. Jetzt ist Juni.

Jetzt feiern wir Geburtstag und das ist jedes Mal eine großartige Gelegenheit dieses jetzt zu umarmen. Du warst klein, du wirst groß und anders und immer mehr ein vielschichtiges Menschenkind, aber jetzt gerade im Augenblick ist es einfach wunderbar, dass du bist, wie du bist und dass du da bist. Geschwistergeschenke haben bei uns einen sehr hohen Stellenwert, obwohl ihr materieller Wert kaum Centbeträge beträgt. Aber die Liebe, die drinnen steckt, in selbstgebackenen Keksen und einigen Bommeln, ist unbezahlbar, sie ist immer auch eine große Würdigung des Augenblicks. Wir leben gemeinsam und wir feiern gemeinsam, jeder mit dem, was er hat, egal, was kommt. Und es ist die Würdigung des Selbermachens, der kleinen Projekte und Erfolge, ganz unspektakulär und unaufgeregt, aber doch von unschätzbarem Wert, gerade jetzt.

Jetzt ist Zeit für Erdbeereis. Es ist schnell gemacht und unfassbar lecker. Wir haben tatsächlich vor Jahren eine Eismaschine geschenkt bekommen, die uns treue Dienste leistet, du brauchst nicht mehr als ein Schälchen Edbeeren, etwas gesüßte Kondensmilch, Zitronensaft und Sahne und schon klebt da ein dickes, großes Trostpflaster auf deiner Seele.

Jetzt ist auch wieder Zeit für Cold brew coffee. Das Rezept ist schon älter, du findest es hier und wenn du eh schon mal da bist, dann könntest du auch gleich Miris indisches Hühnchen nachkochen, vergiss das Naan-Brot  dazu nicht, es ist ein Fest, hier, jetzt und heute, versprochen.

Jetzt sinken wir am Abend oft mĂĽde auf das Sofa und lassen uns gerne ablenken von „little fires everywhere“. Diese Serie ist groĂźartig gemacht, aber keine leichte Kost, nur das Ende fand ich, ach ja, sieh selbst. Als Jugendliche der Neunziger schmunzelte ich ĂĽber die Klamotte, als Mutter zerriss es mir mehr als einmal das Herz, es gibt, wie soft im Leben, kein richtig, kein falsch, nur viel zu viel Gutgemeintes. Spannend ist es auch.

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Jetzt habe ich von einem älteren Experiment gelesen und umgehend und schwer begeistert meinen Kindern davon erzählt. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass das Erleben einer positiven Ăśberraschung eine unmittelbare Kettenreaktion zur Folge hat. Also, ĂĽberrascht dich jemand mit einem freundlichen GruĂź oder einem unerwarteten Kompliment, findest du einen Euro auf der StraĂźe oder 10 Euro in der alten Jacke, dann gibst du diese unerwartete Freude direkt weiter. Der glĂĽckliche Nächste, den du triffst, wird seinerseits mit einem Lächeln oder Kompliment bedacht. VerrĂĽckt oder? Gerade jetzt…wäre es doch eine grandiose Möglichkeit in Mitten aller Unsicherheiten, Ă„ngsten und ErmĂĽdungserscheinungen eine Welle der Freundlichkeit loszutreten. Lasst uns grĂĽĂźen und mit den Augen hinter den Masken strahlen, lasst uns Komplimente verschenken und mal mit einem Euro aushelfen. Damit die Garstigkeit und fiese Fahrraddiebe nicht das letzte Wort haben.

Jetzt suche ich ĂĽbrigens schon nach LektĂĽre fĂĽr den Sommer, falls du eine Idee fĂĽr mich hättest, dann wĂĽrde ich mich freuen und vielleicht sucht der ein oder andere ja auch, dann machst du gleich mehrere Menschen glĂĽcklich und schon schwappt die nächste Welle…

Am Abend nach meinem selbst verursachten Unfall saĂź ich am Bett des zukĂĽnftigen Sextaners und seufzte aus tiefer Seele: „Ich hatte echt einen blöden Tag!“ Und er streichelte mir die Hand und meinte: „Aber jetzt ist er vorbei. Jetzt machst du einen Haken dran und morgen ist ein neuer Tag.“ Wie klug sie sind und weise, diese Kinder, die älter werden und größer und uns so immer reicher machen.

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Ich wünsche dir schöne Junitage. Zum Juni gehört Pfingsten, ein grandioser Auftakt für den Sommer. Sein Geist trägt. Vielleicht macht ihr ja gerade Ferien, vielleicht rudert ihr noch durch den Alltag. Wo und wie auch immer- jetzt, hier und heute, sei behütet und getragen von diesem Geist! Du hast einen tollen Job gemacht, du Heldin des Alltags, du bist echt der Hammer!

4 Kommentare zu „Jetzt im Juni“

  1. Irene Keune

    Liebe Sandra, ich muss es jetzt mal loswerden: still lese ich nun schon viele Monate deine Blogposts. Freue mich unbändig wenn wieder ein Email ins Postfach flattert, die verkündet: er ist wieder da, der Text zum Strahlen 🙂 danke für deine Schreiberei, ich bin so gesegnet dadurch! Liebe Grüße Irene, Mama von 4

  2. Danke, das freut mich doch sehr! Sei gesegnet und gegrĂĽĂźt. Kennst Du Krabat? Es ist fĂĽr mich eines der kostbarsten BĂĽcher, von Otfried Preussler. Ein Jugendbuch und doch fĂĽr mich ein Buch auch fĂĽr Erwachsene.

  3. Die „7 Geisslein“ waren für mich ein Zufallsfund und es ist heute der erste Artikel, den ich lese … und der mich gleich begeistert hat. Nicht so unbedingt wegen der verlinkten Kochrezepte, denn meine Kochfreudigkeit ist nur mittelprächtig ausgebildet.
    Aber die Sachen über die Kinder haben mir sehr gefallen. Das habe ich meinem Vater am meisten „verübelt“, dass er sich hat überfahren lassen, als ich erst 8 Monate klein war und deswegen weder ihn kennen gelernt noch Geschwister bekommen habe – und letzteres bedaure ich am allermeisten, auch jetzt noch, obwohl ich mich schon hätte mindestens 70 Jahre daran gewöhnen können.
    Ich bin gespannt, was das nächste Mal zu lesen sein wird.
    Mit GruĂź von Clara

  4. Kennst du Zsuzsa Banks „Schlafen werden wir später“? Bisher das Einzige, was ich von ihr gelesen habe und lieĂź bei mir immer wieder das GefĂĽhl zurĂĽck, dass es soo schlimm bei uns nun auch nicht ist. Fiel mir nur gerade ein. Danke fĂĽr deinen schönen Beitrag! Jetzt hab ich Appetit auf Erdbeereis…

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