Die Frau an meinem Tisch

Vor einigen Tagen ploppte in meiner timeline ein kleines Video auf. Normalerweise ignoriere ich solche Minifilmchen, denn wenn ich sie mir alle ansehen wĂĽrde, tja dann hätte ich den lieben langen Tag nichts anderes mehr zu tun. In den seltensten Fällen sind sie wirklich bereichernd sondern spielen eher in der Liga „Fastfood“ fĂĽrs Gehirn. Dieses Filmchen aber sprang mich irgendwie an, es wollte von mir gesehen werden. In dem kleinen Ausschnitt erzählt Samuel Koch, jener Schauspieler und Autor, der als junger Kerl bei „Wetten, dass“ schwer verunglĂĽckte und seither im Rollstuhl sitzt, von seinem Vater. Sein Vater habe ihm stets das GefĂĽhl vermittelt, ein bedingungslos geliebter Mensch zu sein. Ein Mensch, der wertvoll und erstklassig ist, einfach nur weil er nun mal ist. Unabhängig von Leistung. Unabhängig von Konflikten, unabhängig von allem, was das Leben so servieren mag. FĂĽr seinen Vater sei er immer „1+“ gewesen. So stelle er sich auch Gott vor. Ein bedingungslos Liebender.

Du könntest mich hinterrücks im Supermarkt überfallen, mich nachts um drei aufwecken, mich freundlich beim Kaffee befragen oder im strömenden Regen abfangen- wann immer du mich fragen würdest, würde ich dir aus tiefster und ehrlichster Seele antworten: Ja, ich liebe meine Kinder! Bedingungslos, einfach, weil sie sind, wertvoll, kostbar, unersetzlich und einzigartig. Unabhängig von Leistung, von Aussehen, von Erfolg, von dem Streit, den wir gerade haben und ihrer Meinung, die vielleicht nicht die meine ist. Meine Kinder sind als Kinder ihrer Eltern und als Gotteskinder unendlich geliebt. Punkt. Schluss. Aus.

Ich sah mir das kleine Filmchen an und dachte plötzlich an die Frau, die jetzt wieder jeden Nachmittag an unserem Esstisch sitzt. Ich mag sie nicht so besonders, auch wenn sie kaum etwas dafĂĽr kann. Anfangs ist sie immer sehr freundlich und zugewandt, fest entschlossen es auch zu bleiben. Aber kurze Zeit später kannst du die Anspannung in ihren Kiefermuskeln sehen, der Mund wird schmallippig, die Stimme gereizt. Vor ihr tĂĽrmen sich MathebĂĽcher und Deutscharbeitshefte, Karteikästen voller unbekannter Englischvokabeln, ein Atlas, mit dem du jemanden erschlagen könntest und naturwissenschaftliche Lehrwerke aus mehreren Jahrgängen. Sie zischt nur noch Wörter wie „3. Person Singular Ablativ“, „schwingende ReizĂĽbertragung auf Gehörknöchelchen hinter dem Trommelfell“ und „Aerophone! Mensch, das ist doch nicht so schwer!“ Zwischen all den Heften und BĂĽchern lugen Kinderköpfe hervor, aus denen die Anstrengung nur so qualmt. Sie haben schon lange Vormittage hinter sich gebracht, sind Bus, Bahn und Fahrrad gefahren, haben einen Test geschrieben oder zwei und zu Mittag gab es Broccoli. Sie wollen nur noch, dass das alles ein Ende findet. Die Frau mit den schmalen Lippen will genau das Gleiche. Es soll jetzt endlich ein Ende finden, denn da liegt noch so viel Arbeit herum und den Job als professionelle Kinderknechterin findet sie ziemlich beschissen. Die Ă„rmste, was soll sie tun? Soll sie rufen: „Kinder, vergesst die Hausaufgaben und all das Gelerne! Vielleicht klappt die Mathearbeit ja auch ohne Ăśben und wenn nicht, ist auch nicht tragisch! Ich habe Lust auf frische Zimtschnecken, wer backt mit?“

Diese müde, entnervte Frau, in die ich mich jeden Nachmittag verwandle, liebt ihre Kinder bedingungslos. Deswegen will sie sie nicht in die Falle laufen oder alleine über Bücher brüten lassen, Stunde um Stunde. Was als Begleiten gedacht ist, wird nicht selten zur Zerreißprobe. Von Hausaufgaben und Lernstress kann sie sie nicht entbinden, es gibt eine gewisse Notwendigkeit zu funktionieren und die Dinge zu tun, die verlangt werden, denn wir leben nun mal in der Welt und nicht im Paradies. Ja, diese müde, entnervte Frau liebt ihre Kinder bedingungslos, aber sie ist nicht sicher, ob diese das nachmittags um vier auch noch spüren, wenn sie die Zähne zusammenbeißt und Ungeduld aus ihren Augen funkelt.

Manchmal schicke ich die Frau weg vom Esstisch, aufs Klo, an die frische Luft oder in den Wäschekeller. Da versucht sie sich dann daran zu erinnern, wer sie eigentlich wirklich ist, was zählt, was immer mitgelernt werden sollte. Barmherzigkeit, Vergebung, Verständnis. Das will sie geben, das braucht sie selbst dringend. Sie atmet dann ein wenig vor sich hin und besinnt sich darauf, dass ihre Kinder nicht nur unregelmäßige Verben wissen sollten, sondern auch ihren eigenen Wert, der völlig unbeeindruckt ist, von Noten, Hausaufgaben und Testergebnissen.

Ich wünsche mir so sehr, dass meine Kinder, dass alle Menschenkinder dieser Welt um ihren Wert wissen. Ein Wert, einfach nur aufgrund ihres Seins. Nachts um drei, wenn sie in ihren Betten liegen, im strömenden Regen, in ihren Klassenzimmern. Und auch an den langen Nachmittagen, an denen sie lernen und arbeiten. Ich kann ihnen das Arbeiten nicht ersparen, ich kann ihnen die schmallippige Frau nicht gänzlich vom Hals halten. Aber ich kann ihnen diesen Wert vermitteln, jeden Tag neu. Wenn die Xanthippe in mir unseren Tischverlassen hat, dann entschuldige ich mich für ihr biestiges Getue. Ich werbe um Verständnis und meistens ernte ich es auch. Wir sind uns einig, dass Hausaufgaben und Mathetests nichts als ein riesengroßer Misthaufen ist, der eben geschaufelt werden muss. Wir schenken uns ein paar Handvoll Gnade, immer und immer wieder und dann lassen wir´s gut sein.

Weißt du was? Dein Wert und mein Wert hängt auch nicht von Leistung ab. Auch nicht von der Leistung unserer Kinder, denn sie sind nicht unser Vorzeigeprojekt. Auch nicht von unseren eigenen Ansprüchen, von dem, was wir an einem Tag geschafft haben, oder auch nicht. Manchmal vergessen wir das selbst, oder? Also falls es dir gerade entfallen sein sollte, so ist es mir eine Freude, dich kurz zu erinnern. Du bist wertvoll, einzigartig und besonders! Du brauchst dafür rein gar nichts tun. Was immer dir das Leben serviert, an Scheitern, an Müdigkeit, an Zweifeln und Überforderungen, du kannst es mit Fassung tragen. Du bist ein geliebtes Kind und an deinem Wert ändert all das rein gar nichts!

5 Kommentare zu „Die Frau an meinem Tisch“

  1. Schön geschrieben. Eine Mama erzählte mir heute, das ihr Kleiner die Hausaufgaben an der Waldorfschule nicht mag. Sie hat ihm dann gesagt: gut, dann mach sie nicht, aber stehe dann morgen auch dazu. Das habe ich mir mitgenommen. Das finde ich total toll. Erst einmal natürlich, kurz gedacht, in der Hoffnung, das es hilft. Aber dennoch. Diese Haltung will ich mehr übernehmen

    Liebe GrĂĽĂźe
    Andrea

  2. Wunderbar geschrieben! Ein Danke von Herzen ? Ich persönlich kenne die „schmallippige Frau“ auch zu gut, ich begegne ihr immer wieder mit Geduld und ganz viel Liebe, denn die Liebe in unseren Herzen ist göttliche Liebe und immer viel kraftvoller als müde, gestresste Momente- wenn wir wieder un Verbindung treten mit unserem inneren Herzensraum, dann können Vergebung u Mitgefühl, Liebe u Wärme noch aussen strahlen und die Herzen unserer Kinder berühren!

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