Aus dem Hinterhalt

Wieder eine dieser Wochen, pickepackevoll mit Terminen, Verpflichtungen, Aufgaben, die kaum zu bewältigen und deshalb schon als Grenzerfahrung zu verbuchen sind. Am Donnerstag hatte das sich immer schneller drehende Karusell Höchstgeschwindigkeit aufgenommen. Lesemama morgens um7.40Uhr in der Grundschule, kurz nach Hause um das Morgenchaos zu beseitigen, dann zur Yogastunde (der Rücken, der Rücken!!!), einkaufen, Kindergartenkinder abholen, kochen, Hausaufgaben betreuen, mit allen Fünfen zur Hausärztin, weiter zur Physiotherapie mit meinem Sohn, Abendessen, im Chor um acht Uhr am Abend auf denStuhl plumpsen und versuchen nicht einzuschlafen. Am Freitag, Martinstag, war das Nervenkostüm schon schwer strapaziert.

Der Besuch bei unserer homöopathisch arbeitenden Hausärztin diente dazu, die Kinder „winterfest“ zu machen, also robust und resistent gegen alle Widrigkeiten des Winters. In Kombination mit täglicher Frischluft und ausreichend Schlaf funktioniert das seit Jahren hervorragend und wir sind tatsächlich so gut wie nie nennenswert krank. Erst Analyse der jeweiligen Befindlichkeiten und dann die passenden Globulis. Klappt wunderbar. Ach und gestern wĂĽnschte ich mir so sehr, sie hätte nicht nur Globulis zum Schutz vor Grippe und Magen-Darm-Infekten. Nein, schön wäre doch, wenn man sich nicht nur winterfest, sondern auch stressfest machen könnte. Unangefochten und gelassen wĂĽrde ich dann durch das tägliche Alltagschaos manövrieren, mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Oh und ich wäre gerne“emotionsfest“. Ohne GefĂĽhlsschwankungen immer genau wissen, welche Reaktion die angemessene ist. Kinderangst und Kinderstreit, Schultheater und Familienkonflikte- nichts wĂĽrde mich erschĂĽttern oder gar ins Wanken bringen. Ja und dann noch bitte etwas, um krisenfest zu werden. Selbstzweifel und Versagensängste hätten keine Chance mehr. Die nörgelnden Stimmen in meinem Inneren wären auf und davon, aus Furcht vor meinem abgehärteten GefĂĽhlsimmunsystem. In mir ruhend und selbstzufrieden wäre ich doch ein Quell der Inspiration fĂĽr meine Mitmenschen. Hach, traumhafte Vorstellung.

Tja, Pustekuchen. Gestern stand ich da, mit meinem angekratzten Nervenkostüm und sammelte die Kinderchen und Laternchen um mich, um aus dem Freitagnachmittagschaos zum örtlichen Martinsumzug aufzubrechen. Und rumms. Es kam aus dem Hinterhalt. Mein Großer sagte freundlich Nein Danke. Ich war perplex, aber voller Verständnis. Ein Zehnjähriger, der eine wirklich harte Woche hinter sich hatte, entschied für sich, dass er auf einen Laternenumzug gut verzichten kann und wer wollte es ihm verdenken? Immerhin ist er schon zehn. Rumms. Sein Bruder schloss sich ihm an. Aber der ist doch noch klein?! Ich schluckte schwer und ließ die Herren gewähren. Innerlich getroffen zog ich mit den verbleibenden dreien von dannen. Der Abschiedsschmerz kam unvermittelt und heftig. An den großen Wendetagen, wie Einschulungen und Geburtstagen rechnet man mit solchen Emotionen. Aber dann kommen sie meist nicht. Sie kommen aus dem Hinterhalt und erwischen einen kalt. Kinder werden größer und verändern sich. Ich kann sie nicht festhalten.  Kein Globuli der Welt kann da helfen und ich kann mich nicht wappnen.

Der Gatte tröstete mich auf dem Heimweg, durch die dunkle Kälte. Meine Kleinen sangen selig Martinslieder und schwenkten ihre Laternen. Mein Mädchen, das alles spürt auch wenn man gar nichts sagt, blieb fest an meiner Seite.

Durchgefroren bogen  wir in unsere StraĂźe ein. Die HaustĂĽr stand ein Spaltbreit auf. Als wir reinkamen, begrĂĽĂźten uns fröhliche, ausgeruhte Buben. Sie hatten gemeinsam aufgeräumt und das Chaos beseitigt. Ăśberall im Wohnzimmer brannten Kerzen. Sie hatten auch Holz fĂĽr ein Feuer im Ofen von drauĂźen reingeholt. Wir stellten die Laternen dazu und ich war wieder einmal sprachlos. Das groĂźe GlĂĽck kam aus dem Hinterhalt. Danke! flĂĽsterte mein Herz. Wir setzten uns um unseren Esstisch und teilten die mitgebrachten Weckmänner. Aber erst, nachdem wir auf Wunsch unserer zwei Jungs nochmals gesungen hatten. „Und bestimmt fällt euch auf,“ sagte mein GroĂźer, „dass eine Kerze noch nicht brennt. Unsere Osterkerze. Ich dachte, wir zĂĽnden sie gemeinsam fĂĽr den Heiligen Martin an“.

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Ein Lichtermeer zu Martins Ehr…

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Puh, dachte ich. Ganz ehrlich, ich will mich gar nicht irgendwie „fest“ machen, nicht resistent werden, gegenĂĽber dem prallen Leben. Ich will sie spĂĽren, die kleinen und groĂźen GefĂĽhle. Ich will mich nicht  gegen alles wappnen, was aus dem Hinterhalt auf mich zu galoppiert kommt. Weder gegen den Schmerz noch gegen das GlĂĽck des Augenblicks. Sie sind es doch, die das Leben letztlich so lebenswert machen.

 

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