Vorgestern am Abend fiel eine Nachricht in eines meiner zahlreichen digitalen Postfächer und von dort direkt hinein in mein Herz. Jemand vermisst das Blogeckchen, vermisst die Worte, die ich hier sonst doch ganz regelmäßig verliere, jemand war in Sorge, ob denn wohl alles in Ordnung sei. Ich kenne diese jemand gar nicht, aber ich war wirklich gerührt. Auf die Idee wäre ich doch nie gekommen, dass das Fehlen überhaupt auffällt, von Vermissen ganz zu schweigen. Es war wie ein leiser aber trotzdem durchdringender Weckruf. Nun sitze ich hier und es fühlt sich tatsächlich ein wenig fremd an, wie alles, was man über längere Zeit vernachlässigt hat (frag mal meine Bauchmuskeln, die kennen mich gar nicht mehr).
Das Leben dieser Tage fühlt sich immer noch so an als würde man jeden Morgen in eine winzige Nussschale steigen, um darin einen wilden Ritt über den Ozean wagen. Das Ziel ist nicht eine ferne Trauminsel, das Ziel ist allein nicht zu ertrinken. Das erfordert natürlich ziemlich viel Aufmerksamkeit, Kraft und Energie und weil dieses Nussschalensegeln nun schon so lange andauert, sind meine Vorräte längst aufgebraucht. Die Nussschale wird hin und hergeworfen und alles was bleibt ist sich irgendwie festzukrallen. Lass mich raten, deine auch, oder?! Siehst du, ich mag aber eigentlich nicht jammern und klagen und darüber lamentieren, welche Wellen mir wieder über den Kopf zusammenschlagen und wie der Sturmwind an uns rüttelt. Ich mag nicht, weil ich weiß, dass du selbst über das Meer schipperst, Tag um Tag, immer darum bemüht, dass keiner über Bord geht. Da brauchst du doch nicht auch noch mein Genöle. Ich will aber auch nicht so tun als wäre alles easy peasy und wir ein gigantisches Containerschiff, das unverdrossen seinen Weg durch eisige Gewässer pflügt, mit Kompass und Plan und ein paar Lebensweisheiten im Gepäck.
Andererseits ist da diese Nachricht im Postfach. Und ein Elternabend, dem ich via Zoom vor Kurzem beiwohnen durfte. Müde Elterngesichter starrten mir vom Bildschirm entgegen, keiner meckerte und keiner maunzte Lehrkräfte wegen irgendetwas an. Es war ein Bildschirm voller Ratlosigkeit. Eine fasste sich ein Herz und meinte, dass ihre vierzehnjährige Tochter mittlerweile so an die Isolation gewöhnt sei, dass sie gar nicht mehr in die Schule gehen wolle, wozu die Mühe, nicht wahr? Menschen scheint man problemlos auch über den Chat sehen zu können, warum also extra zu irgendeiner unchristlichen Uhrzeit in den Zug oder den Bus steigen? Tja, was soll ich sagen, wir stimmten ihrer Erfahrung alle zu. Statt Tanzstunde, fröhlichem Dummgebabbel und jede Menge Albernheiten im Kopf, wie es sich für ordentliche Teenies gebührt, ist da sehr viel Phlegmatismus, Resignation und Stille. Das ist furchtbar traurig, aber es war irgendwie tröstlich zu hören, dass es allen anderen genau so geht. Ich war durch diesen Elternabend nicht noch mehr belastet sondern vielmehr entlastet. So viele Nussschalen.
Ich kann dir also getrost ein wenig von meinem Ritt übers wilde Meer erzählen, nicht weil ich dich runterziehen oder nassspritzen will, sondern weil ich dir zuwinke, von Nussschale zu Nussschale und dann fühlen wir uns ein bisschen verbunden. Vielleicht ist es auch für dich ein wenig entlastend und tröstlich, dann wäre doch schon etwas gewonnen.
Ich habe seit Wochen ein Haus voller Kinder, sie tun das, was sie seit über einem Jahr tun. Sie sitzen vor ihren digitalen Endgeräten und versuchen verzweifelt den Anschluss nicht zu verpassen. Das ist nicht immer einfach. Der Hund hat den Gartenschlauch gefressen. Ich finde es relativ ungerecht, dass ich jetzt alles wieder neu lernen muss, was ich mit Erlangung des Abiturs beruhigt vergessen habe. Quadratische Gleichungen und Äquivalenzumformungen sind nicht eben mein Steckenpferd, aber immerhin hat es kaum mehr als zwei Stunden und ein Wochenende gedauert, bis ich wieder total im flow war. Man wird zumindest nicht dümmer dieser Tage. Deswegen weiß ich jetzt auch alles über das Bos Taurus und die höheren Säugetierklassen. Ich kann locker jedes Satzglied bestimmen, mit meinem Sohn über die Vor- und Nachteile des Utilitarismus diskutieren und in Greenwich würde ich jederzeit den Weg zum observatory finden. Der Hund hat das Kabel vom Rasenmäher gefressen, die Baumärkte sind geschlossen und unser Rasen trägt jetzt Langhaar.
Weil meine Geisteskraft quer durch den Unterrichtsstoff von vier Jahrgängen irgendwann an ihre natürlichen Grenzen gerät, übe ich mich im ehrlichen Umgang mit meinen Schwächen. Ich gestand ohne rot zu werden einer mir völlig fremden Lateinlehrerin, dass ich leider noch nicht mal als Krücke für die digitale Wissensvermittlung dienen könne, da sie bestimmt nicht wissen wolle, wie ich an mein Latinum gekommen sei. Sie lachte ein italienisch gurrendes, fröhliches Lachen und hatte enormes Verständnis für die Gesamtsituation, denn wahrlich nicht jedem Kind liegt der Bildschirmunterricht. Dann bot sie innerhalb von zwei Stunden einen Lösungsweg an, der hoffentlich gangbar ist. Dankbarkeit brauche ich nicht üben, die durchflutete mein Herz von ganz allein und sie flutet wieder und wieder, immer dann, wenn in all diesem Chaos jemand noch Freundlichkeit und ein Quentchen Lösungsbereitschaft verschenken kann. Der Hund hat meine Sportschuhe gefressen.
Wenn man von all dem Schulkram mal absieht, dann leben hier immer noch sieben Menschen schon sehr lange sehr eng aufeinander. Vor einem Jahr wurde hier noch gebacken und gebastelt und die Landschaft mit bunten Steinen bestückt, dass es die reinste Freude war. Nun, man muss lernen Abstriche zu machen, in so einer Nussschale. Wir reduzieren immer weiter als wären wir auf der Suche nach der Essenz des Lebens. Ein Canastaspiel am Morgen, nicht sehr aufregend und neu, anstelle aufwendiger Brettspiele. Keine langwierigen Bastelsessions, wer mag denn noch länger an diesem elenden Tisch sitzen? Wir wurschteln gemeinsam vor uns hin und das schlechte Gewissen ist mein steter Begleiter. Müsste ich nicht doch noch? Sollten wir vielleicht… und wäre es nicht dringend nötig…? Ich kann es nicht über Bord werfen, dieses elende Gewissen, aber ich akzeptiere es als blinden Passagier an Bord meiner Nussschale, soll es doch bleiben, so lange es nicht zu doll zickt. Der Hund hat mein Strickzeug gefressen.
Ich finde, dass der Ton auf dem Meer rauer geworden ist, erbarmungsloser und wenig gnädig. Deshalb meide ich die sozialen Medien immer mehr, denn wenigstens in unserer Nussschale soll es nach Möglichkeit barmherzig und gnädig zugehen. Das ist es doch was wir brauchen, oder? Ich schimpfe wie ein Rohrspatz und entschuldige mich. Mir gehen alle Geduldsfäden über Bord und dann fischen wir sie wieder raus. Einem ist es bockig ums Herz, die andere verzagt. Wir sammeln auf und glätten, trösten und verzeihen einander. Es ist ein mühseliges Geschäft, aber es lohnt sich. Unbarmherzigkeit und Härte würden uns den Rest geben. Deshalb höre ich auch auf den Rat meiner klugen Physiotherapeutin und schreie täglich mehrfach in ein Kissen, so laut ich nur kann. Manchmal schreit ein Kind mit. Irgendwo muss sie ja hin, all die Anspannung und Sorge, ob wir denn auch an diesem Abend alle heil von Bord kommen. Der Hund hat meine Handyhülle gefressen.
Zum Ende erzähle ich dir noch kurz von meinem Buch, so von Schale zu Schale. Es ist nämlich nahezu fertig, friss das Corona! Ich schließe mich an Wochenenden in fremde Büros ein und bald ist alles gesagt. Dort buchstabiere ich nämlich meine Gedanken in die Tastatur und zu Hause kann ich Tag für Tag, Stunde um Stunde diese schlauen Gedanken dem knallharten Realitätscheck unterwerfen. Was auch immer du irgendwann davon halten magst, so kannst du sicher sein, ich habe es mir wirklich von der Seele geschrieben. Der Hund hat die Mathehausaufgaben gefressen.
Wie konnte ich nur denken, dass es egal sei, ob man da ist, oder nicht?! Es ist nicht egal. Ich sehe dich, in deiner Nussschale, wie du ruderst und kämpfst und dir die Gischt aus dem wirren Haar streichst. Ich sehe dich und winke dir, halt aus! Bald ist wieder Land in Sicht.
Liebe Sandra
Von Herzen ein Danke! Du schreibst mir aus der Seele!! Einzig bei See Stelle „digitaler Elternabend“ wurde ich kurz nervös- hatten wir den übersehen? Wir arbeiten nämlich beide im Homeoffice, nur noch in Videokonferenzen…und die bin ich siwas von leid!! Nun ja, verpasst oder nicht, wir erkundigen uns mal bei sehr netten MitEltern in der Klasse unserer Jüngsten:))
Und wir halten die Segel gesetzt, auch in diesen unwägbaren stürmischen Zeiten. Was es braucht? Naja, wie so oft im Leben: Geduld, Ausdauer und ganz viel Liebe! Herzensgruß, Isabelle
Herrlich ehrlich. Hab Dank dafür. Bitte gehe in einen Laden für Hundefutter sonst wird die nächste Tierarztrechnung zu teuer… hab gelacht danke dafür
Oh danke für diesen ehrlichen, müden, aufbauenenden Text. Ich winke von meiner Nussschale, arbeitssuchend, mit Kleinkind zu Hause. Gut, dass wir kein Haustier haben. Was der Hund so alles frisst. Und ich bin so gespannt auf dein Buch.
Liebe Grüße
Vielen lieben Dank für ein Lebebenszeichen von dir! Es tut gut zu lesen, das andere auch „kämpfen“…ich freue mich sehr auf dein Buch.
Liebe Grüße von einer der Nussschalen
Liebe Frau Geissler,
seit einiger Zeit habe ich Ihren Blog abonniert und lese Ihre Beiträge sehr gern. Im aktuellen Beitrag verwenden Sie das Bild des Meeres, um Ihr Befinden und Ihre Gefühle in der Pandemie-Zeit zu schildern. Das hat mich sehr angesprochen â?? vor allem deshalb, weil ich momentan an einer Anthologie überâ??s Meer sitze und Texte sammle.
Von Beruf bin ich Lektorin beim Verlag Gerth Medien. Dort haben wir auch die Möglichkeit, eigene Herausgeber-Projekte zu betreuen. Mein kleines Buch vom groÃ?en Meer ist so ein Projekt. Natürlich sind mir schon sehr viele, sehr schöne Texte â??in die Händeâ?? gefallen. Oft schildern die Autorinnen und Autoren tolle Erlebnisse, die sie am Meer/am Strand/bei einer Bootsfahrt etc. hatten und wie das Meer ihnen die GröÃ?e und Unendlichkeit Gottes vor Agen gemalt hat. Ein sehr wichtiger und ermutigender Aspekt.
An Ihrem Beitrag gefällt mir, dass er mal was ganz anderes ist und völlig andere Assoziationen bedient. Auch hier spielt das Meer als Symbol eine Rolle, aber das eigene Hin-und-Her-Geworfensein ist die eigentliche Message. Daher wage ich jetzt einfach einen Vorsto� und frage Sie, ob ich Teile aus Ihrem aktuellen Blog-Text für das neue Buch, das im nächsten Frühjahr bei Gerth Medien erscheinen wird, verwenden darf�?
Alles weitere (Modalitäten etc.) können wir gern klären, wenn Sie einverstanden wären. Ich wollte nur erstmal ganz generell fragen, ob Sie sich das überhaupt vorstellen könnten, dass ich einen gekürzten Auszug aus dem aktuellen Blogpost im Buch â??zweitverwertenâ?? darf. Wenn nicht, ist das auch okay. Aber ich wollte wenigstens fragenâ?¦ð???
�ber eine Rückmeldung Ihrerseits würde ich mich sehr freuen.
Einen herzlichen GruÃ?,
Sigrid Offermann
Lektorat Gerth Medien
Och, das freut mich doch sehr! Natürlich gerne.
Liebe Grüße
Liebe Sandra,
Seit mindestens einem Jahr lese ich deinen blog und bin begeistert über deine Schilderungen. Anfangs der Corona Zeit habe ich eher mit schlechtem Gewissen gelesen, denn wir hatten keine tollen Pläne und ich war froh durchhalten zu können. Heute entspricht es mir total, was du schreibst. Wunderbar diese Bilder der Nussschalen. Vielen Dank für dein teilen- ich hab auch schon mehrfach vergeblich nach neuen Blog Beiträgen von dir geschaut.
Ich habe vier Kinder zwischen zehn und achtzehn, ein Tageskind mit 1,5jahren und die Schwiegermutter zum versorgen. Unser Hund ist schon aus der Kauphase, aber Aufmerksamkeit und Bewegung braucht er auch. Manchmal tut es gut raus zu kommen…
Herzliche Grüße Kerstin
Ich habe selten oder noch nie so einen schönen Artikel über diese beschwerliche Zeit gelesen – besonders, weil es ja die Schulkinder nicht unbedingt einfacher machen, die Aufgaben dieser Zeit.
Aber am meisten habe ich den Hund bewundert – der muss ja einen Supermagen haben. Oder hat dieser Schelm etwa alles nur zerbissen und nicht geschluckt. Unser Familienhund (von meinem Sohn) musste schon zweimal operiert werden, weil er das unverträgliche Teil wirklich geschluckt hat – der ist immer so verfressen.
Danke für die Zeilen, die so schön zu lesen waren, sagt
Clara
Liebe Sandra, danke für Deinen Text, nachdenklich, authentisch und so humorvoll. Und ich kann dir sagen, es geht noch schlimmer, unser kleines Nussschalenboot hat sich in den letzten Monaten gedreht wie so ein Kajak, das ins Wasser taucht. Mein Mann ist am 11.3. gestorben und nichts mehr ist so wie es war. F… Corona und F… Cancer.
Trotzdem will ich auf das schauen, was geht, gut läuft, Hilfe die angeboten wird und eine Ärztin, die mich spontan umarmte (ich sei ja geimpft und sie komme an nächsten Tag dran…) einfach so aus Mitgefühl. Das tat der wunden Seele und dem müden Körper gut.
Herzliche Grüsse aus der Schweiz
Silvia
Liebe Silvia,
vielen Dank für deine Rückmeldung. Mir fehlen die Worte, aber ich schicke dir einen ganzen Berg guter Gedanken und Gebete in die Schweiz. Bleibt behütet, du und die deinen, und ich wünsche dir immer und immer wieder Menschen, Freunde, gute Seelen, die dich einfach in den Arme nehmen. Sei lieb gegrüßt
Danke für den ehrlichen Text. Es ist wirklich gut zu lesen, dass wir nicht allein Tag für Tag unsere Kraftreserven zusammenkratzen.
Alles Gute für die nächste Zeit.
Auch ich habe fast täglich nachgeschaut, ob du etwas neues geschrieben hast. Und auch wenn unsre zwei Teenies (16 &18) alle Schulaufgaben selbstständig meistern, gab es Stürme anderer Art. Stand doch die Führerscheinprüfung, die schriftliche und praktische Zwischenprüfung, die Wahl der Leistungskurse etc an und immer wieder die Entscheidungen, darf sich das Mädel mit 2 weiteren Freundinnen treffen,vielleicht auch über Nacht oder lieber doch nicht……..die berufsbegleitende Fachhochschulprüfung steht noch aus, der relativ spontane Auszug unsres Sohnes und die, für mich sehr großen, Veränderungen wenn wir im Sommer Hundezuwachs bekommen! Da machst du mir ja echt Mut 🙂 Danke für den Nussschalenvergleich – tröstlich zu wissen, dass wir alle auf dem selben Meer unterwegs sind und wir Freunde und Familie haben, die mit und für uns beten! Bleibt behütet!
Oh doch, ich habe Deinen Eintrag auch vermisst. Alles Gute und Danke für all die tröstlichen Sätze!
Danke für deine ehrlichen Worte. Dein Blog ist einfach eine Wohltat. Du beschönigst nicht, Lachen und Weinen sind oft nah beisammen, das Leben halt. Mit Humor gewürzt und einer Leichtigkeit, die selbst Schwierigem einen Lichtschimmer anhängt. Ich bin froh, findet in deiner Nussschale das Schreiben auch noch Platz, denn das bereichert mein Nussschalen-Gepadel doch sehr.
Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft, Hoffnung und Durchhaltevermögen im täglichen Kampf.
Sula
Ich bin zufällig auf deinen Blog gestoßen und lese deine Beiträge so gerne. Du schreibst so ehrlich und herzlich. Und immer ein mutmachendes Wort parat. Vielen Dank dafür.
Liebe Grüße
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