Okay, aus den lieben Urlaubsgrüßen ist leider nichts geworden, entschuldige bitte. Wir waren offline. Außer in den kargen Minuten, in denen meine Kinder aufgereiht, wie Perlchen an einer Schnur, im örtlichen Supermarkt die Gartenmöbelabteilung belagerten, um über das wackelige w-lan runter und hochzuladen, was überlebensnotwendig ist. Währenddessen rannten der Gatte und ich durchs Geschäft, um die Tonnen an Lebensmitteln zusammenzuhäufen, die mittlerweile eben auch überlebensnotwendig sind. Jetzt sind wir wieder da und ich kann dich ganz entspannt von zu Hause aus grüßen. Also, relativ entspannt. Es sind hier ja noch Ferien und das Haus ist voller Menschen.
In jedem Dezember, zwischen den Jahren, wenn die Mägen voll und die Kalender noch leer sind, beginnt der Gatte nach einem Sommerferienhaus zu suchen. Ein mühseliges Geschäft. Größe. Preis. Lage. Hund. Da bleiben von 3875 Treffern in der Regel nur noch, tja, vier oder fünf. Dann müssen diese die Prüfung durch meine geschulten Argusaugen bestehen. Die scannen dann mit geübten Blick Küche, Schlafmöglichkeiten und das Klo. Bis jetzt haben wir immer etwas gefunden. Einen Steinturm in den toskanischen Wäldern. Das rote Holzhaus am schwedischen See. Das Bauernhaus in der Bretagne. Ein umgebauter Stall in Devon.
Und dieses Mal landeten wir auf einem uralten Hof in der französischen Vendee. Erbaut 1791, die schweren Balken, die Holzstiege, das verfallene Backhaus und die Steinmauern steckten voller Geschichte und Geschichten. Noch dazu steht eine Burg, auf der schon Richard Löwenherz umherspazierte, in der unmittelbaren Nachbarschaft. Und natürlich der wilde Atlantik als Salz und Nahrungsquelle und ein großer wilder Garten rund um das Haus. Wer dort wohl alles seine Wurzeln hatte? Wer dort wohl alles gelebt, geliebt und gelitten haben mag, während im Land die Revolution, und im Laufe der Jahrhunderte die Kriege tobten?
Meine Wurzeln liegen in diesem Land, meine ersten drei Jahre, die erste Sprache, die ich lernte. Ich habe mir lange schwer getan, mit diesen Wurzeln, glaubte gar, man könne Wurzeln einfach kappen- und trotzdem weiterleben. Aber anders als Karotten und Pastinaken gehört der Mensch zu der Sorte Wurzelgemüse, die das gar nicht vermag, die ihre Wurzeln einfach mitnimmt, wenn man sie verpflanzt. Und dann wächst sie weiter. Bildet neue Wurzeln, verankert sich im neuen Grund, neue Verästelungen, neuer Halt. Und die alten bleiben einfach Teil dieses einzigartigen Menschengewächs, gehören zu seiner Struktur, seinem Wesen, essentiell und nie ohne Sinn. Wir vergessen nur manchmal, dass sie da sind. Und dann wundern wir uns, dass wir sind, wie wir sind.
Ich habe die Kinder gefragt- dieses Haus, so alt, dieses Land, diese Mauern- wer könnte hier wohl seine Wurzeln haben? Und sie haben sich ihre eigenen Geschichten ausgedacht und aufgeschrieben. An fünf Abenden saßen wir auf den alten, sonnenwarmen Steinstufen oder unter den riesigen Feigenbäumen und hörten gespannt zu. Lauschten Geschichten von „la belle Isabelle“, die vor ihren Verfolgern hierher floh und Hilfe fand. Von Julien, der seine Familie vor den Wirren der Revolution schützen wollte. Von Philippe, der doch bestimmt genau hier eine Gruppe von Resistance-Kämpfern Unterschlupf gewährte. Von Cecile, die bei ihrer alten Tante wohnte und es irgendwann schaffte, ihr Herz zu öffnen. Du siehst- an Phantasie mangelt es uns nicht. Es gibt nichts spannenderes als die Geschichte und die Geschichten eines Menschen, die verborgenen Wurzeln, das Gespinst aus Gewordenem und Werdendem.
Für einige Wochen durften wir dieses alte Gemäuer mit unseren Leben, unseren Geschichten füllen und ein paar neue erleben. Wir aßen unter den alten Bäumen, spielten, lachten und stritten. Pflückten die Feigen aus den Bäumen. Durften einmal mehr gesund schrumpfen (nach dem Alltagsaktionismus kommt bei mir immer eine gewisse Form des Urlaubsaktionismus, bevor die hektische Seele Ruhe finden kann). Ich spürte einmal mehr, in welchem Grund ich Wurzeln schlagen möchte. Und mein Herz ist voller Dankbarkeit für seine Wurzeln, die alten und die neuen, die schmerzhaften und die glückseligen, denn sie machen mich zu dem Menschen, der ich werden durfte und immer noch werden darf. Wie fein hat es sich doch der Schöpfer ausgedacht, dass wir ganze Menschen sein dürfen. Dass wir gewobene Kunstwerke aus all unseren Geschichten und all unserer Geschichte sind. Dass wir nichts kappen und auf die Müllhalde des Lebens werfen können, sollen, brauchen. Weil wir dann schlicht nicht vollständig wären. Und er will uns ganz. Mit unserem Schmerz und unserer Freude, unserer Liebe und unseren Zweifeln. Das ist doch sehr tröstlich und auch befreiend.
Ganz praktisch: Komm, ich versuche etwas Neues. Ein kleine Rubrik, okay? Was mir gefallen, was mich gefesselt, was mir geholfen hat. Ungeordnet und lose. Vielleicht kannst du ja etwas davon gebrauchen.
- Zum Beispiel mein liebste Urlaubslektüre. Der Preis geht in diesem Jahr an „Der Salzpfad“ von Raynor Winn. Also wahrscheinlich bin ich mal wieder „too late to the party“ und alle wissen schon, wie absolut großartig dieses Buch ist. Aber mich hat es eben jetzt mitten ins Herz getroffen, nicht nur weil ich manche der Orte selbst kenne, sondern weil ich die Geschichte dieser beiden Menschen so bewegend und inspirierend finde. Falls du es kennst, oder kennenlernen solltest, weißt du, wo der Gatte ein neues Sommerferienhaus für uns finden muss.
- Platz 2 geht an „Unerwartete Leidenschaft“ von Vita- Sackville-West. Nein, das ist keine Liebesschmonzette. Geschrieben 1930 erzählt es die Geschichte von Lady Slane, die im zarten Alter von 88 Jahren, frisch verwitwet und zur größten Irritation ihrer Nachkommen, plötzlich beschließt, ihr eigenes Ding zu machen. Very british und sehr amüsant.
- Lass die Kinder kochen. Ich habe in der Woche vor dem Urlaub die Verantwortung für die Kocherei gänzlich abgegeben. Jeden Tag hat ein anderes Kind gekocht. Einfache Sachen, die vorher gemeinsam überlegt wurden. Um Einkauf und Zubereitung habe ich mich nicht gekümmert. Hat super geklappt und war auf jeden Fall lehrreich, von nichts kommt ja nichts. Allerdings- du musst dann eben essen, was auf den Tisch kommt. Auch Tofu Spieße.
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Sandra, du schreibst so wunderbar! „Das Gespinst aus Gewordenem und Werdendem“, diese ausgearbeitete Wurzelmetapher…wasfür eine tolle und wahre Art und Weise, den Menschen zu beschreiben. Und ja, wie soviele Andere hat mich The Salt Path auch mitgerissen. Ich glaube, weil die Geschichte so absolut authentisch ist – wie dein Schreiben auch. Danke für dieses inspirierende Post!