Guten Morgen, es ist 9.30 Uhr und ich darf endlich meinen ersten Kaffee trinken. Vorher musste ich schnell noch alle ihrer Wege schicken, mit gefĂĽllten Mägen und Dosen, Schonkost fĂĽr den magenkranken Hund zubereiten (Reis mit Pute und einem Stich Butter- der Hund findet sein Leben mit Schonkost prima, ich finde es eher mĂĽhsam), den Hund ausfĂĽhren, noch schnell die Betten und eine Ladung Wäsche… Plötzlich klingelte das Handy und ein kläglicher SchĂĽlerpraktikant in spe teilte mit, dass der Zug nicht… und er jetzt bestimmt zu spät, gleich am ersten Tag und…tja also jetzt bin ich zurĂĽck von meinem kleinen Trip in die Stadt und trinke mit dir Kaffee.
Dem erfolgreichen Start in zwei Wochen Praktikum steht damit nichts mehr im Weg und selbstverständlich steige ich in so einem Moment ins Auto und fahre los, ich wĂĽrde auch dich fahren-ich lasse keinen hängen, aufgeregte Praktikanten schon mal gar nicht. Der Ehrlichkeit halber muss aber gesagt werden, dass ich stinksauer war, zumindest während der ersten Hälfte der Fahrt- nicht nur auf die Deutsche Bahn. Denn die Bahn ist nun mal äuĂźerst unzuverlässig, nicht nur hin und wieder sondern sehr regelmäßig. Will man also mit Sicherheit irgendwo ankommen und zwar pĂĽnktlich, tja dann muss man einen Zug frĂĽher nehmen. Keine Sorge, ich bin nicht nachtragend und schon beim Aussteigen war längstens alles wieder gut. Ich bekam ein „Danke“, ein „Entschuldigung“ und die Zusage „Morgen nehme ich den frĂĽheren Zug“ Damit ist die Sache gegessen. Warum erzähle ich dir davon?
Nun, wie lange treffen wir uns jetzt schon hier in meinem Blogeckchen? Jahre, es sind wirklich Jahre! Dabei ist etwas sehr erstaunliches passiert- ich muss hier gar keinen Kleinkinderchaosalltag mehr verarbeiten, denn ich habe keine kleinen Kinder mehr. Ich habe jetzt einen SchĂĽlerpraktikanten, der normalerweise bis abends um sechs Schule hat (blöde Fächerkombination), diskussionsfreudig und mit bissigem Humor. Das groĂźe Mädchen ist tatsächlich schon eine Handbreit größer als ich und das Leben stellt sie vor viele Fragen, auf mehr als eine davon gibt es gar keine Antwort. Da ist ein schlaksiger 7.Klässler mit riesigen FĂĽĂźen, schweigsam, wie eh und je, mit diesem klugen Lächeln in den Augen. Er biegt ebenfalls gerade auf die StraĂźe der groĂźen Veränderungen ein, diese StraĂźe, so unĂĽbersichtlich wie ein Felssteig durch die Pyrenäen, voller Schlaglöcher und Gefahren, aber mit atemberaubender Aussicht. Noch sind Gesichter unserer Zwillinge warme runde Kindergesichter, aber ich weiĂź ja, wie unfassbar schnell…und wenn mir das einfällt muss ich sie schnell finden und herzen und drĂĽcken, bevor alles anders wird.
Die Jahre sind vergangen, die Kleinkinder sind gegangen, nur das Chaos ist geblieben. Wenn du seid Beginn an hier dabei bist, dann ergeht es dir ganz genauso wie mir, oder? An die Stelle kleiner Kinder sind Heranwachsende getreten. Du brauchst dich nicht mehr um Fläschchen, Windeldermatitis und zahnende Babys sorgen, vorbei die Zeit mit Logopädie-Terminen und Ergotherapeuten, von verlorenen Playmobilmännchen und rätselhaften Schreianfällen in der Nacht. Du kannst sogar das Haus verlassen, ganz alleine, nur mit deiner hübschen Handtasche am Arm, ohne den ganzen Hausstand einzupacken. Vieles, worum du dich gesorgt hast, hat sich schlicht in Luft aufgelöst, dem Himmel sei Dank. Du bekamst das Bündel Mensch in die Arme und gemeinsam seid ihr einen Wahnsinnsweg gegangen, so viel gab es zu lernen, herauszufinden, zu bewältigen und gemeinsam zu entdecken.
Und nun? Ist der Weg nun zu Ende gegangen? Schauen wir unseren Jugendlichen in die Augen und sagen: „So, ab jetzt gehst du links lang, ich rechts lang und von Zeit zu Zeit werden wir uns schon ĂĽber die FĂĽĂźe laufen oder treten!“? Nein, nicht wahr, so ist es nicht. Stattdessen rĂĽstest du dich besser schleunigst mit festem Schuhwerk, dass dich nicht so schnell wanken lässt, mit warmer Kleidung, die dich schĂĽtzt, wenn der Wind eisig pfeift und einem groĂźen Rucksack voll mit all der Liebe, all der Herzenswärme, Langmut und Geduld, die du nur auftreiben kannst. Und dann biegst du mit ein auf die groĂźe StraĂźe der Veränderungen, die so furchtbar steil und steinig ist, voller Schlaglöcher und Gefahren, aber eben auch mit groĂźartigen Aussichten, einem atemberaubenden Panorama und faszinierenden Begegnungen mit dem wilden Leben. Das Wetter auf diesen Wegen ist wechselhaft bis heiter. In einem Moment peitscht dir der Regen schräg ins Gesicht, im anderen blitzt der blaue Himmel hervor und Sonne kitzelt deine Nase. Man mag gar nicht glauben, dass es ĂĽberhaupt regnen könnte, aber da blitzt es schon wieder und Hagel gesellt sich dazu. Dieser Weg ist ein einziges Abenteuer und du bist dabei. Du musst den Weg nicht suchen. Du schreitest nicht groĂźspurig voran mit der Landkarte in der Hand, weil du dich doch nun mal so wahnsinnig gut auskennst mit Felssteigen und Schlaglöchern. Du warst vielleicht irgendwann mal dreizehn, vierzehn oder fĂĽnfzehn. Aber du warst nie heute dreizehn, vierzehn oder fĂĽnfzehn und du wirst es auch niemals sein.
Der Weg ist grundlegend anders als damals, als du darauf unterwegs warst, so wie deiner ein ganz anderer war, als der deiner Eltern. Ich schaue diese jungen Menschen in unserem Hause an und würde sie so gerne in Watte packen, einen GPS-Tracker installieren, den Wahnsinn der Welt aussperren, aber es geht nicht. Früher beäugten Eltern höchsten misstrauisch die örtliche Dorfjugend oder den Umgang in der jeweiligen Klasse. Früher mussten Jugendliche genau damit klarkommen. Mit drei bis fünf verschiedenen Weltanschauungen, welche ist für mich richtig? Mit dem eigenen Körper, dem eigenen Werden und Wachsen. Heute macht sich das ganze Internet mit auf den Weg, es plärrt dazwischen, weiß alles besser und will einfach keine Ruhe geben. Kaum ein Erwachsener vermag noch wirklich zu unterscheiden, was Wahrheit oder das gefilterte Bild von Wahrheit ist, was ein echter Körper ist und was ein geschönter. Obenauf stülpt sich das ganze Leid der Welt, denn auch die Horrormeldungen aktualisieren sich stündlich und als junger Mensch hat man ihnen nicht wirklich viel entgegenzusetzen.
Du trägst kein BĂĽndel Mensch mehr im Arm, aber du gehst mit diesem deinem Menschen. Manchmal musst du hinten gehen und manchmal Seite an Seite. Es ist ein Miteinander, unfassbar kostbar, unfassbar fragil. Ein Miteinander auf Augenhöhe, ich höre hin, denn sie haben Wichtiges zu sagen, höre hin, weil ich eben nicht alles besser weiĂź. Ich muss nicht mehr lernen, wie man einer Dreijährigen die Haare wäscht, aber ich lerne die hohe Kunst des „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“-Tanzes. Mehr denn je wird ein respektvoller Umgang miteinander wichtig, das Vorbild sein ohne selbst plakativ zu werden, die FĂĽrsorge und die liebevollen Gesten. Der Weg ist lang, er ist steinig und schwer. Es braucht jemanden, der bei Bedarf ein Pflaster reicht, der Wegweiser ist, wenn es unĂĽbersichtlich wird, Blitzableiter, wenn die Spannung zu hoch wird, SchutzhĂĽtte und Lämpchen in der Dunkelheit. Der unsichtbar sichtbar sein kann. Der nicht mĂĽde wird, zu beten, um Schutz und den richtigen Weg. All das mĂĽssen und dĂĽrfen Eltern sein. Die Kleinkindjahre waren Ăśbungen im leichten Gelände, jetzt wird es richtig spannend, ein wirkliches Abenteuer.
Der Essensgeschmack des Gatten und seiner heranwachsenden Tochter divergieren massiv, was am Wochenende, nun ja… neulich entdeckte ich ihn im örtlichen Buchhandel ausgerechnet in der Kochbuchabteilung. Er suchte dort den größten gemeinsamen Nenner. Der größte gemeinsame Nenner heiĂźt Ottolenghi, kein Fleisch, aber orientalisch. Ich glaube, dass ist einer der GrĂĽnde, warum ich den Gatten so gern habe. Er ist immer auf der Suche nach dem größten gemeinsamen Nenner und den Rest kann man groĂźzĂĽgig ĂĽbersehen oder aber gelten lassen. Er hat das Kochbuch gekauft und seiner Tochter geschenkt. Das ist wohl das Wichtigste. Den größte gemeinsame Nenner, immer und immer wieder zu suchen und zu finden. Dann verliert man sich nicht aus den Augen, auf diesem Weg durch steiniges Gelände.
Wenn ein Praktikant anruft, weil er in Nöten ist, dann fahre ich. Motze ein wenig und lass es gut sein. Hat er wieder etwas gelernt, auf seinem Weg und mir ist nur ein Stündchen Zeit abhanden gekommen, kein Zacken aus der Krone.
Wenn dir dieser Beitrag gefallen hat, dann kannst du ihn, meine Arbeit und diese Seite gerne mit einer kleinen Spende wertschätzen und unterstützen, das geht ganz einfach über den Pay Pal Button! Ich danke dir von Herzen und freue mich wirklich sehr über jede Unterstützung
So schön, so tröstlich, ich danke Dir! Mein Sohn ist über 40 und noch jetzt gelten Deine Worte.
Da bleibt mir nur zu sagen: so ist es! Danke..
Danke dir Sandra, fĂĽr die so zutreffenden Worte. Ich habe mich sehr abgeholt und verstanden gefĂĽhlt. ? Das tat meinem Herzen gerade richtig gut ???!
Meine beiden Jungs sind schon etwas größer (15 + 18), aber da tut sich in den Gedanken und Ăśberlegungen ganz viel Ă„hnliches ?…
Alles Liebe dir und viiiiel Geduld und Verständnis im Gepäck?,
Debby aus Bochum ???????
Du triffst es so wunderbar auf den Punkt und das mit den schönsten und richtigen Worten.