Liebe Güte, frag nicht! Der Alltag ist wild und ungebärdig, ein wenig unübersichtlich und verwirrend. Kennst du dieses Gefühl sich im eigenen Alltag zu verirren und dann immer schneller und schneller zu werden, weil man doch unbedingt den Anschluss finden möchte? Hm, genau- ich irre und suche noch, ganz außer Atem bin ich schon von der ganzen Rennerei. Einer der Gedanken, die mein ruheloses Hirn beschäftigen, trage ich heute hierher , dann hab ich ihn zumindest ordentlich verräumt.
Wie du weißt, wohnen in unserem Haus mehrere junge Menschen, zu denen ich mich jetzt mal kurz nicht dazuzähle. Ich meine natürlich junge Menschen unter zwanzig. Sie wohnen nicht nur im Haus, sondern bewohnen auch eigene Zimmer. Genau da fängt das Dilemma an. Es ist ein wenig originelles Dilemma, womöglich kennst du es, fast schon peinlich gewöhnlich. Die Bewohner der Zimmer und ich haben äußerst unterschiedliche Vorstellungen davon, wie ordentlich so ein Raum auszusehen hat. Nicht das ich irgendeine Form von Reinlichkeitsfetisch hätte (ich würde wirklich niemals jemandem empfehlen von unserem Fußboden zu essen, es sei denn, er mag Dreck wirklich gerne). Aber bei klebrigen Geschirr zwischen den Schulbüchern, schmutziger Wäsche auf dem Fußboden und Wollmauskolonien unter dem Bett, bei den ich fürchten muss, dass sie schon eigene Demokratien gründen, werde ich leider rumpelig, um nicht zu sagen ungehalten. Die jugendlichen Bewohner haben mich freundlich darauf hingewiesen, dass es sich bei den Räumlichkeiten ja um ihre handeln würde, somit auch um ihren Dreck und ich mich darum also gar nicht kümmern müsse. Es ginge mich schlicht nichts an.
Weil ich über die Jahre als Mutter immer klüger werde und deshalb weiß, dass man über Kinderargumente lieber gründlich nachdenken sollte, habe ich genau das getan. Nach langer Prüfung und vielem Abwägen bin ich zu dem Entschluss gekommen: der Nachwuchs irrt. Privatsphäre geht mich nichts an. Ich lese weder in Tagebüchern noch in Briefen, durchwühle keine Schubladen und auch keine Schulhefte, ich schaue noch nicht mal in geschlossene Taschen, auch wenn ich scharfe Waffen darin vermute (Socken, nicht Pistolen). Aber diese Zimmer sind Teil unseres gemeinsamen Zuhauses, ein Zuhause, für das wir sehr viel arbeiten, um es zu bezahlen, um es zu erhalten und um einen guten Ort für uns alle zu haben. Wer ein Zimmer bewohnt, muss dafür Sorge tragen, dass es nicht verfällt und gammelig wird, muss den Wert richtig schätzen. Es ist ein Privileg, ein eigenes Zimmer zu haben, einen Rückzugsort und safe space. Es ist schwer, diesen Wert richtig zu schätzen, wenn man nie erfahren hat, wie es sich ohne ihn lebt. Den Wert eines eigenen Raumes, der Arbeit, die für ihn geleistet wurde und wird, für Hab und Gut, für eine Tür, die man schließen kann und für ein eigenes Bett, unter dem sich Wollmäuse ansiedeln können, gleich neben der leeren Chipstüte. Mindestens genauso wichtig wie das Lehren von Staubsaugen, Wäsche sortieren und Spiegeleier braten, ist wohl das Lehren vom Schätzen eines Wertes. Ich merke immer mehr, dass das ein essentieller, wenn auch äußerst mühseliger Teil des Erziehungsauftrages ist. Es trägt nicht eben zu meinem Coolnessfaktor bei, wenn ich wegen nasser Handtücher auf dem Boden einen Affentanz aufführe. Aber wer wird sie einsammeln, waschen, aufhängen, falten, wegräumen?
Wie hoch schätzen wir den Wert von Hausarbeit, von Lebenszeit, die nicht unsere ist, von tausend Handgriffen, die andere tun, damit ich gut leben kann? Ich will meinen Kindern ganz unbedingt das Schätzen des richtigen Werts und das Wertschätzen vermitteln, denn ich sehe mit Schrecken, wie wenig diese Fähigkeiten in der Öffentlichkeit verbreitet ist. Wieviel Wert messen wir dem Ehrenamt bei, den abertausenden Stunden von Zeit, die Menschen investieren, für dein Kind, für deine Stadt, für deine Gemeinde? Neulich las ich in einem Artikel, dass geschriebene Worte im Internet, gleich ob von ordentlichen Journalisten, Hobbyautoren oder Freiberuflern, jederzeit kostenlos zugänglich sein sollten. Warum? Wie gering ist denn der Wert, der solcher Arbeit beigemessen wird? Ich möchte erst gar kein Fass aufmachen, angefüllt bis an den Rand mit der Not von Pflegeberufen, von Care Arbeit und Mental Load. Aber ich denke, dass ich mir den Wert von Arbeit und der Zeit anderer, den Wert von Ressourcen, von Wasser und Brot, von einem Zuhause und Holz im Ofen immer wieder ganz bewusst machen möchte. Ich will ihn richtig schätzen, ihn pfleglich behandeln und mit Respekt. Dankbar sein, für alles was wir haben und teilen dürfen, für ein gebügeltes Hemd und für den Fußballtrainer, der seinen Feierabend mit einer Horde ungestümer Jungs verbringt. Es ist nichts selbstverständlich und sollte es auch nicht werden. Sobald jemand seine Zeit, seine Arbeit, sein Geld investiert, entsteht ein Wert, den ich nicht gering achten darf, selbst dann nicht, wenn es nicht meiner ist. Das verdient Respekt und Anerkennung und einen sorgfältigen Umgang, sowohl mit Menschen und Dingen, als auch mit der Zeit. Keine Sorge, ich möchte wirklich nicht, dass mir für jede gewaschene Unterhose und jeden überlebten Wocheneinkauf ein Loblied gesungen wird. Mir genügt schon, wenn verflixt noch eins das Zimmer aufgeräumt und das Handtuch aufgehängt wird.
Ich streite mich mit diesem lächerlich gewöhnlichen Dilemma herum, weil es das wert ist….Mir wurde mein Leben, meine Zeit, meine Fähigkeiten, mein Stückchen Heimat, die Menschen, mit denen ich es teile, geschenkt und anvertraut. So, wie dir, das deine. Lass uns immer neu üben, den Wert dieses Geschenks zu schätzen, lass es unseren Kindern beibringen, egal, wie sehr es manchmal nervt. Wenn wir gut miteinander umgehen, mit dem, was wir haben und mit dem, was wir sind, dann schlagen wir der Lieblosigkeit ein Schnippchen.
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Liebe Sandra, ich bin auf diese Seite durch deine Geschichte aus der Family Next gestoßen. Ich möchte dir einfach danken. Du hast meine Gedanken ebenfalls hier formuliert. Danke. Viel Kraft und reichen Segen weiterhin.