In den letzten Wochen war ich erstaunlich wenig in den sozialen Medien unterwegs. Das weiß ich deshalb, weil es mir mein Handy mitgeteilt hat. Ich würde jetzt wahnsinnig gerne behaupten, dass dies das Resultat gründlicher Selbstreflexion gewesen sei, angewendet in herausfordernden Zeiten, eine Form fundierter Selbstfürsorge und Anwendung aller klugen Ratschläge aller klugen Instagramlebensberatungsselbstheilungsgefühlscoaches. Leider nein. Es ist mir quasi aus Versehen passiert. Das Leben, das echte, wilde, grausame und wunderschöne Leben, hat mich völlig in Beschlag genommen, ungefiltert, ungeschönt und ohne die nervigen Randbereiche wegzuschneiden. Im echten Leben triffst du echte Menschen und zwar auch ungefiltert, ungeschönt und in ihrer ganzen Bandbreite.
Manchmal, und in der Regel sucht man sich das nicht selbst aus, beginnt alles, was du dir hübsch eingerichtet und zurechtgelegt hast, an zu wanken und zu schwanken, es gerät ins Rutschen, fällt an der ein oder anderen Stelle komplett auseinander, Altes drängt sich vehement an die Oberfläche. Wahrheiten, Beziehungen, Überzeugungen, alte und neue Lebensthemen, alte und neue Ängste. Bumms, stehst du mitten drin im aller schönsten Durcheinander. Ich schätze, dass das jedem so geht. Immer mal wieder. Je älter ich werde, desto weniger schrecken mich diese Phasen. Ich habe längst gelernt, dass sie nun mal unausweichlich part of the story sind. Was natürlich rein gar nichts daran ändert, dass so ein Ausbruch an Lebenschaos wahnsinnig anstrengend, aufreibend und nervenzehrend ist. Aber mein liebstes Wort in der Bibel ist eines der ersten: das Wort „tohuwabohu“, Irrsal und Wirrsal, und genau damit hat alles begonnen, daraus entsteht das ganze bunte Leben, die ganze Menschheitsgeschichte, reichend von hier bis in die Ewigkeit. Wenn etwas Neues entstehen soll, dann braucht es offenbar erstmal ein ordentliches Schöpfungschaos, Urprinzip des Lebens, wie Atmen oder Essen oder Ruhen. Stehst du mitten drin in deinem Wirrsal, dann kommt zuverlässig der Punkt, an dem du dich ernsthaft fragen musst: was soll bleiben, was kann weg, was muss weg, auch wenn es schmerzt, was wird niemals wanken und woran will ich mich festhalten.
Ich stehe in meinem persönlichen Tohuwabohu und erstaunliches passiert. Ausgerechnet jetzt schenkt mir der Himmel eine Fülle an Begegnungen, an Gesprächen und irren Geschichten, die nur das Leben selbst schreiben kann- so etwas kann sich keiner ausdenken. Ich lerne wieder neu zuzuhören, lerne wieder neu, was wichtig ist, worauf es ankommt, was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Allen Begegnungen, allen Geschichten, den eigenen und denen der anderen ist eines gemeinsam. Alles worauf es letztlich immer wieder hinaus läuft ist schlicht und simpel und unbezahlbar die Liebe. Die Liebe, die nicht in rosarot mit Plüschherzchen daher kommt, flüchtig und verkitscht. Nein, die echte, tiefe, alles aushaltende, alles tragende Liebe.
Da ist diese Mutter, die um ihr Kind, um seine Gesundheit und sein Leben kämpft, wie ein Löwin, mit harten Bandagen und einer Kraft, wie sie nur die Liebe freizusetzten vermag. Ich höre den Schmerz in ihrer Stimme, die Ratlosigkeit und Angst. Und ich höre ihre Liebe, die bereit ist, notfalls auch Berge zu versetzen. Möge auch die Welt einstürzen, diese Liebe wird überdauern und tragen. Ein Freund erzählte über seine letzten Monate mit seinem Vater. Stundenlang hat er an seinem Bett gesessen und sich erzählen lassen, was wichtig war, was Bedeutung hatte, worauf es ankam. Und hat alles aufgeschrieben. Für sich, für seine Kinder, für seine Familie. Das ist Liebe im Abschiednehmen, in der tiefen Verbundenheit, in der Würdigung der Geschichten und der Weisheit eines ausklingenden Menschenlebens.
Und dann bekam ich noch die Geschichte einer sehr alten Dame geschenkt, die in das Haus ihrer Tochter zum Sterben gekommen war. Sie lag in ihrem Pflegebett und ließ sich das Telefon reichen. Jeden ihrer noch lebenden Freunde rief sie an und verabschiedete sich. Sie sei nun bei ihrer Tochter, es sei die letzte Station ihres Lebens und damit auch Zeit zum auf Wiedersehen sagen. Ihr Leben war ereignisreich gewesen, zwei Ehemänner hatte sie zu Grabe getragen und in den letzten Jahren, schon mit über achtzig, war sie ihrer alten Jugendliebe wieder begegnet. Gemeinsam verbrachten sie ihre letzten Jahre, in tiefer Verbundenheit, denn- und das sind doch wirklich phantastische Nachrichten- für die Liebe bist du nie zu alt. Während sie sich langsam auf den Heimweg machte, saß ihr über neunzigjähriger Geliebter zu Hause am Klavier. Sie konnte ihn hören, man hatte ihr den Lautsprecher des Telefons ans Bett gebracht, und er spielte für sie jeden Abend: Guten Abend, gute Nacht. Und sie sang. Kaum hörbar noch, aber sie sang. Bis irgendwann kein neuer Morgen mehr für sie anbrach. Für ihn hatte sich die Sache mit dem Leben damit erledigt. Kurze Zeit später folgte er ihr und ich hoffe wirklich, dass sie dort oben sitzen mögen, gemeinsam an einem Klavier, singend und spielend und frei von allem Schmerz.
Ein bisschen darf ich auch die ganz, ganz junge Liebe miterleben, die mit richtig viel Herzklopfen und Aufregung und langen Spaziergängen, ach, so bezaubernd wie Maiglöckchen und rosa Pfingstrosen, zauberhaft, wie alle Neuanfänge, zerbrechlich und kostbar. Darin liegt so viel Hoffnung und Lebensfreude, ganz so, wie sie eben in jedem Frühlingsgarten ausbricht und Leben verheißt. Und schließlich fallen mir alte Kinderbilder in die Hände und ich sehe das kleine Mädchen auf den Fotos. Ich sehe auch den gehemmten Teenager und das Kind mit dem metallenem Kassengestell auf der Nase. All das war ich, all das bin ich und merke: man kann sich auch im Nachhinein noch liebhaben und trösten und mit sich selbst ein wenig weinen. Ich spüre, dass in all meinem Tohuwabohu die Liebe mein Netz, mein Anker, mein Halt war, ist und bleibt. Die, die beharrlich Pausenbrote schmiert, am Rande eines Fußballplatzes ausharrt, und wieder jede Nacht Kinder in den Schlaf begleitet. Die, die in einer Umarmung liegt, im kleinen und großen Vergeben, in der tiefen Freude am Blühen in unserem kleinen Garten. Die, die mir geschenkt wird und durch jede Ritze meines Lebens rieselt, wie ganz feiner Sand und alle Leerstellen füllt. Die, die sich ängstigt und sorgt und jeder Zeit bereit wäre, ein paar Berge zu versetzen für ihre Kinder, für ihren Mann, für alles, was ihr teuer ist.
Das echte Leben ist wild und grausam und wunderschön. Das Tohuwabohu, Irrsal und Wirrsal, ist part of the story, Lebensprinzip, wie Atmen, Essen, Ruhen. Aber die Liebe ist das Oben und das Unten, das Fundament und das Firmament, die Wurzel und die Krone allen Lebens. Umarme sie, hüte sie, verschenke sie, nimm sie an und lass dich in sie hinein fallen. Sie ist alles, worauf es letztlich hinausläuft.
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Danke!!!!Das hat mich heute sehr getröstet.